Es ist etwas kühler geworden. Die Temperaturen steigen lediglich auf 20 Grad. Das ist aber für Ausflüge mit dem Fahrrad immer noch eine sehr angenehme Temperatur. Das Wetter ist aber auch wechselhafter geworden. Immer wieder muss man mit Schauern rechnen, obwohl auch viele etwas oberhalb oder nördlich an Usedom vorbeiziehen. Heute will ich zunächst einmal einige meiner ausstehenden Tagesberichte nachtragen. Ich bin inzwischen vier Tage im Rückstand. Ansonsten möchte ich noch einmal nach Peenemünde fahren und ein wenig mir das Treiben der Heeresversuchsanstalt zu vergegenwärtigen. Gegen 11 Uhr mache ich mich auf den Weg. Bald wird mir allerdings auch klar, dass es konkret recht wenig zu sehen gibt.
Die Heeresversuchsanstalt war eine ab 1936 in Peenemünde errichtete Entwicklungs- und Versuchsstelle des Heeres. Unter dem Kommando von Walter Dornberger, Chef der Raketenabteilung im Heereswaffenamt, und der technischen Leitung des gerade einmal 24 jährigen Wernher von Braun wurde hier am Peenemünder Haken im Norden von Usedom ein militärisches Sperrgebiet errichtet, in dem hauptsächlich die erste funktionsfähige Großrakete mit der Bezeichnung „Aggregat 4“ entwickelt und getestet wurde. Später erhielt sie von der NS-Propaganda die Bezeichnung „Vergeltungswaffe“, mit der sie unter dem Kürzel V2 noch heute ein Begriff ist. Mit ihrem ersten erfolgreichen Flug am 3. Oktober 1942 war die ballistische Rakete das erste von Menschen gebaute Objekt, das in den Grenzbereich zum Weltraum eindrang. Allgemein gilt Peenemünde daher als „Wiege der Raumfahrt“. Eine sehr ambivalente Bezeichnung angesichts der Tatsache, dass tausende von Menschen ihr Leben in dieser Wiege verloren. So wurde die Drecksarbeit bei der Entwicklung und den Test von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen geleistet, von denen mindestens 12.000, andere Quellen sprechen sogar von 16 bis 20 Tsd. Toten durch die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen oder durch die brutale Behandlung zu Tode kamen.
Die Aggregat 4 oder V 2 wurde von den Nazis als „Wunderwaffe“ gefeiert und insbesondere bei der Bombardierung Antwerpens und Londons eingesetzt. Etwa 8.000 Menschen kamen bei diesen Angriffen ums Leben. Da es ihr an Präzision mangelte hat sie nie die erhoffte miltärstrategische Bedeutung erlangt, die man sich wohl erhofft hatte. Daher waren die meisten Opfer der V 2 auch unter der Zivilbevölkerung zu beklagen. Nach dem Angriff der Angriff der Royal Airforce im August 1943 auf Peenemünde wurden die Produktionsstätten in ein Stollensystem nach Nordhausen in Thüringen verlegt. Der Leiter der Gedenkstätte KZ Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat die Absurdität dieses Projekts mal mit dem Satz auf den Punkt gebracht, dass es wohl kaum ein anderes militärisches Waffensystem gegeben habe, bei dem mehr Menschen bei der Produktion der Waffe ums Leben gekommen seien als bei ihrem Einsatz. Auch der ehemalige Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion Albert Speer schrieb später zur Bewertung des V 2-Projekts: „Unser aufwendigstes Projekt war zugleich unser sinnlosestes. Unser Stolz und zeitweilig mein favorisiertes Rüstungsziel erwies sich als einzige Fehlinvestition“. Gott sei Dank kann man aus heutiger Sicht nur sagen! Eine weitere Absurdität ist freilich auch, dass keiner der damals für das Projekt verantwortlichen, wegen der zahlreichen Toten je zur Verantwortung gezogen wurde. Im Gegenteil, die Hauptbeteiligten wie Wernher von Braun und seine zahlreichen Mitarbeiter, stellten sich den Amerikanern, wurden nach Amerika gebracht und avancierten zu den Managern und Helden der amerikanischen zivilen Raumfahrt und der Raketenentwicklung vor dem Hintergrund des kalten Krieges. Wernher von Braun wird seitdem als derjenige gefeiert, der die Mondlandung organisierte und die Leichen, über die er in Peenemünde im wahrsten Sinne des Wortes ging, werden diskret ignoriert.
So viel in Kürze zum historischen Hintergrund. Von den damaligen Bauwerken und Einrichtungen ist nicht mehr viel übrig geblieben. Man findet nur noch Betonreste. Markantestes Symbol ist das gewaltige Bauwerk des Staubkohlekraftwerks, was heute als Museum dient. Allerdings sind die einzelnen Einrichtungen auf Infotafeln in Peenemünde und Umgebung sehr gut beschrieben und insofern ist die Rundfahrt, die ich mache, durchaus gewinnbringend. Meine Tour führt mich bis zum Flugplatz hinaus, der in den 40er Jahren der Flugplatz mit den längsten Start- und Landebahnen im Deutschen Reich gewesen sein soll. Ich besuche auch die kleine Kapelle in Peenemünde, die in dieser Form erst nach dem 2. Weltkrieg errichtet wurde und sich als Gedenktabelle für alle Opfer versteht. Vor der Kapelle findet sich auch ein Gedenkstein, der auf ein weiteres historisches Ereignis verweist. So landete zu Midsommer 1630 hier der schwedische König Gustav Adolf, um von hier aus in den Dreißigjährigen Krieg, der im Deutschen Reich tobte, zugunsten der Protestanten einzugreifen. Obwohl er wohl sehr entscheidend in den Krieg eingriff, kehrte er von diesem Feldzug nicht mehr lebend nach Schweden zurück. Er fiel recht unglücklich in 1632 in der Schlacht bei Lützen in der Nähe von Leipzig, wo er in der Nähe in der Schlacht bei Breitenfeld 1631 seinen ersten großen Sieg erstritten hatte.
Nach diesem Ausflug in die jüngere und ältere Geschichte kehre ich in mein Quartier zurück. Abends treffe ich mich mit Heidrun an der Klinik und wir fahren mit den Rädern noch einmal nach Zinnowitz. Heidrun hat natürlich schon in der Klinik zu Abend gespeist. Ich gönne mir nun hier in Zinnowitz eine Pizza und später machen wir noch einen Spaziergang entlang der Promenade, weichen einem Schauer aus und erfreuen uns noch am Sonnenuntergang, den wir von der Seebrücke aus beobachten.
Tagesdaten: 48,89 Km; 04:00:24 Std. Fz.; 12,2 Km/h; 138 Hm