14. Tag (11. August 2024) – Lodz

Spaziergänge durch Lodz: 12,5 Km

Meine Unterkunft ist gut, das Frühstück ist gut und das Wetter ist ideal für Stadtspaziergänge. Es ist heiter bis wolkig, die Temperaturen steigen nur bis 24 Grad und es weht weiter ein Wind der beim Stadtspaziergang durchaus angenehm sein kann. Darek hat mir heute noch ein bearbeitetes Foto geschickt und mir viel Glück gewünscht.

Bevor ich mich Weg zur Stadtbesichtigung von begebe, hier ein nicht ganz kurzer historischer Überblick über die Entwicklung der Stadt.

Łódź ist mit über 670.000 Einwohnern nach Warschau, Krakau und Breslau die viertgrößte Stadt Polens. Bis 1989 war sie die zweitgrößte Stadt und hat seitdem etwa 160 Tsd. Einwohner verloren. Die anderen beiden nun größeren Städte sind dabei nicht sonderlich gewachsen, sondern Lodz hat einfach eine hohe Zahl an Einwohnern verloren.

Die Hauptstadt der Woiwodschaft Łódź ist Sitz der Universität Łódź sowie der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater. Für die Wirtschaft des Landes bilden die immer noch ansässigen Unternehmen der Textilindustrie sowie der Unterhaltungs- und Elektronikbranche einen Schwerpunkt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt vor allem durch die Textilindustrie rasant. Vorwiegend Deutsche und Juden zogen in die Stadt, aber auch zahlreiche Polen und Russen lebten hier. Die Stadt entwickelte sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsstandort der Region. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Juden von den deutschen Besatzern in das Ghetto Litzmannstadt gezwängt, hunderte Kinder im Jugendverwahrlager Litzmannstadt eingepfercht.

Seinen Ursprung hatte Łódź als kleine Siedlung an einem Fluss, der nach der Stadt Łódka heißt. Lodz ist wie viele heute großen Industriestädte ein vergleichbar junge Stadt. Um 1800 lebten lediglich 190 Menschen hier. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 wurde der Ort Teil des Herzogtums Warschau und 1815 in Kongresspolen integriert, sodass die Stadt dem russischen Zaren unterstand. Dies und die nachfolgenden Veränderungen legten für Łódź den Grundstein für seinen wirtschaftlichen Aufschwung.

Neue Baugebiete im Süden des Ortes zogen 1823 die ersten deutschen Tuchmacher an, die zumeist im Westen Deutschlands sowie in Sachsen, Böhmen und Schlesien angeworben wurden und später auch aus der preußischen Provinz Posen stammten. Die deutschen Weber, Spinner und Färber, die bald die Bevölkerungsmehrheit bildeten, übten zu Beginn ihr Handwerk traditionell in Heimarbeit aus. Im Zuge der Industrialisierung wurde Łódź der wichtigste Standort der Textilindustrie in Kongresspolen, vergleichbar vielleicht mit Chemnitz in Sachsen. Die Stadt galt allgemein als Manchester Polens. Die Einwohnerzahl stieg von unter 1000 auf mehrere Hunderttausend und lag um 1900 bei über 300 Tsd. und stieg noch bis zum 1. Weltkrieg auf 600 Tsd. Auch was die rasante Einwohnerentwicklung betrifft ist Lodz mit Chemnitz vergleichbar. Nach deutlichen Einbrüchen nach dem 1. und dem 2. Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl bis 1988 auf die Rekordhöhe von 854 Tsd.

Die erste Textilfabrik errichtete 1826 Christian Friedrich Wendisch. Der Novemberaufstand von 1830/31 bremste Łódźs Aufschwung. Nach den Kämpfen ging der Aufschwung allerdings weiter und so errichtete Louis Geyer (auch Ludwik Geyer) aus Berlin 1836 eine Textilfabrik, die sogenannte Weiße Fabrik. 1848 wurde Juden erstmals erlaubt, sich in der neu errichteten Fabrikstadt niederzulassen. 1854 nahm Carl Scheibler aus Monschau in der Eifel seine erste Maschinenfabrik in Betrieb und ein Jahr später errichtete er eine moderne Spinnerei hier. Bei einem Weberaufstand am 20. April 1861 wurden einige Fabriken beschädigt. 1865 erhielt die Stadt den wirtschaftlich wichtigen Anschluss an das Schienennetz. 1904 gab es 546 Fabriken in der Stadt, die 70.000 Arbeiter beschäftigten, vor allem in der Textilindustrie.

Mit dem Bau der ersten Synagoge in Łódź wurde 1882 begonnen. Zwei Jahre später wurde die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale eingeweiht. Der nach der Zahl der Gräber größte jüdische Friedhof Europas wurde im selben Jahr auf einer von Izrael Poznański gestifteten Fläche angelegt. Der 1896 angelegte Doły-Friedhof ist der größte städtische Friedhof.

1892 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen der Einwohner mit dem russischen Militär, wobei am 23. Juni 164 Menschen starben. Weit verbreitet war das Arbeiterelend in Łódź. Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit lag zeitweise bei 70 %, unter anderem weil es in der Stadt lange keine Kanalisation gab. Um 1900 waren immer noch 80 % der Łódźer Analphabeten.

Während des Ersten Weltkrieges wurde die Stadt Łódź zum Kampfgebiet. Die Schlacht um Łódź endete unentschieden, jedoch mussten die russischen Armeen die Stadt am 6. Dezember 1914 den Deutschen überlassen. Der Krieg bedeutete für die Stadt einen schweren wirtschaftlichen Schlag. Zum einen brach der wichtige russische Markt weg, zum anderen demontierten die deutschen Besatzer große Teile der Fabriken, deren Besitzer überwiegend deutscher Nationalität waren.

In der nach Ende des Weltkrieges 1918 neu gegründeten Zweiten Polnischen Republik begann auch in Łódź der mühevolle Wiederaufbau der Industrie. Im Jahr 1921 hatte die Stadt unter ihren nur noch 452 Tsd. Einwohnern 53,5 Prozent Katholiken, 34,5 Prozent Juden und 11 Prozent Evangelische. Rund 12 Prozent der Łódźer waren deutschsprachig. (1931 noch ca. 9) Das Verhältnis von Juden und Deutschen war durch die sprachliche Nähe begünstigt. 1930 gab es einen Deutsch-Jüdischen Wahlblock. Das bis 1914 funktionierende Zusammenleben der drei Bevölkerungsteile erfuhr durch die minderheitenfeindliche Stimmung und die wirtschaftliche Dauerkrise im wiedererstandenen Polen Belastungen. Die Minderheitenschulen wurden in den 1930er Jahren eingeschränkt und ab 1938 nahm die Propaganda gegen Juden und Deutsche zu, wobei sich unter letzteren auch Sympathisanten des Nationalsozialismus befanden.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges traf die Stadt auf ihrem wirtschaftlichen Nachkriegshoch. Beim Überfall auf Polen marschierte die Wehrmacht am 9. September 1939 kampflos ein. Am 11. April 1940 wurde Łódź zu Ehren des deutschen Generals Karl Litzmann (1850–1936), dessen 3. Garde-Infanterie-Division in der Schlacht um Łódź Ende 1914 siegreich gekämpft hatte, in Litzmannstadt umbenannt. Die Namensgebung hatte aber weniger mit der Rolle Litzmanns in der Schlacht um Lodz zu tun, sondern damit, dass er als Gegner der Republik ab 1930 Mitglied der NSDAP war und mit seinem Namen für die Partei und Hitler warb.

Am 8. Februar 1940 wurde das Ghetto Łódź, eines der größten im „Dritten Reich“, errichtet. Die dort eingesperrten Juden mussten unter erbärmlichsten Umständen Zwangsarbeit leisten und wurden später in die Vernichtungslager Kulmhof und Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nur etwa 900 von ursprünglich ca. 250 Tsd. Juden wurden beim Einmarsch der Roten Armee noch lebend gefunden. Neben dem Ghetto bestand ab 1942 ein Jugendkonzentrationslager, in dem Kinder schon ab einem Alter von zwei Jahren eingesperrt waren. Mindestens 500 Kinder starben hier. 1940 kam es zu 692 NS-Krankenmorden an Patienten der Anstalt Kochanowka.

Am 19. Januar 1945 erreichten sowjetische Truppen die Stadt. Unmittelbar zuvor hatten die deutschen Besatzer Dutzende Polen in einem provisorischen Gefängnis ermordet, indem sie es in Brand steckten. Während die Stadt nun zur Volksrepublik Polen gehörte, wurden die deutschen Einwohner vertrieben. Da die Wirtschaftsstruktur der Stadt vergleichsweise intakt geblieben, Warschau aber zerstört war, wurde Łódź zu einer der wichtigsten Städte im Polen der Nachkriegszeit. Bis 1948 fungierte es als Regierungssitz; eine vorübergehend erwogene dauerhafte Verlegung der Hauptstadt hierher wurde zugunsten des Wiederaufbaus von Warschau aufgegeben.

1945/1946 fanden viele Streiks statt, die Arbeiter fühlten sich verraten. Dass Juden in Leitungsfunktionen überproportional vertreten waren, verstärkte den vorhandenen Antisemitismus enorm. Dies wurde von den Juden als Pogromatmosphäre empfunden und veranlasste viele von ihnen zur Auswanderung (siehe auch: Geschichte der Juden in Polen).

1948 wurde die später berühmte Filmhochschule Łódź gegründet, die Absolventen wie Roman Polański und Andrzej Wajda hervorbrachte. Lodz entwickelte sich nach 1945 zur Filmstadt Polens, weshalb sie gelegentlich HollyŁódź (sprich Hollywudsch) genannt wird. Die Spielfilmproduktionsfirma von Łódź, die inzwischen Insolvenz angemeldet hat, produzierte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die meisten Spielfilme Polens. Die Bildungsfilmproduktionsfirma produziert Dokumentar- und Schulfilme. Der Film Usłyszcie mój krzyk, der dort von Maciej Drygas produziert wurde, erhielt 1991 den Europäischen Filmpreis für den Dokumentarfilm des Jahres. Das Studio Se-ma-for ist für Animationsfilme bekannt und produziert unter anderem die Kinderserien Miś Uszatek, Colargol, Zaczarowany ołówek und Kot Filemon. Zwei Produktionen gewannen bisher einen Oscar: Zbigniew Rybczyńskis Kurzfilm Tango 1982 und 2008 die britisch/polnische Koproduktion Peter und der Wolf.

Die offizielle Propaganda der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) pries Łódź als Musterstadt der Arbeiterbewegung. In Wirklichkeit waren die Arbeitsbedingungen namentlich in den Textilfabriken miserabel, die Maschinen wurden kaum modernisiert, und es kam immer wieder zu schweren Arbeitsunfällen. Als Wajda 1974 seinen unter den Textilbaronen des 19. Jahrhunderts spielenden Film Das gelobte Land drehte, mussten keine aufwändigen Kulissen hergestellt werden: Einige der Maschinen von damals waren noch in Betrieb. Immer wieder kam es zu Arbeitsniederlegungen in den Textilfabriken. Ein Streik im Februar 1971 zwang die neue PVAP-Führung unter Edward Gierek zu Zugeständnissen; es war der erste erfolgreiche Streik in der Volksrepublik Polen.

Łódź erlebte in den ersten zehn Jahren nach 1989 einen wirtschaftlichen Abstieg. Es herrschte hohe Arbeitslosigkeit, und manche der einstigen Prachtbauten waren dem Verfall überlassen. Eine Verwaltungsreform verkleinerte 1999 die Anzahl der Woiwodschaften auf 16 und vergrößerte die Woiwodschaft Łódź auf 18.219 km². 2002 erschütterte aber ein Korruptionsskandal in der Stadt ganz Polen. Im Łowcy skór (deutsch Hautjäger) genannten Skandal verkauften Mediziner regelrecht Tote an Bestattungsunternehmen für 1200 bis 1800 Złoty, das Doppelte des Monatsgehalts einer Krankenschwester. Um die Gelder einzustreichen, wurden teilweise Menschen ermordet und der Notdienst soll teilweise bewusst langsam reagiert haben, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen ihren Verletzungen erlägen.

Trotz dieses Skandals soll sich die Entwicklung nach der Jahrtausendwende deutlich gewandelt haben. 2002 eröffnete mit der Galeria Łódzka ein modernes Einkaufszentrum. Weitere Fabrikgebäude wurden zu Veranstaltungsorten, Museen und Einkaufszentren umfunktioniert, und jährlich findet die Parada Wolności (vergleichbar der Loveparade) auf der Piotrkowska-Straße statt, dem längsten Boulevard Europas. Hier soll es laut offiziellen Angaben die höchste Dichte an Bars und Klubs in Europa geben, die sich oft in kleinen Hinterhöfen versteckt halten. Ebenso versuchen die Stadtverwaltung und viele kleine Organisationen das besondere Flair der einst multikulturellen Stadt wiederzubeleben. Um an das einst friedliche Zusammenleben von Juden, Russen, Polen und Deutschen zu erinnern, findet jedes Jahr das Festival der vier Kulturen statt. Ob das nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine noch immer so gilt, werde ich versuchen herauszufinden. Die ehemalige Poznański-Textilfabrik wurde 2006 als „Manufaktura“ eröffnet und ist das  größte Einkaufs- und Erlebniszentrum Polens. Die alten Fabrikhallen wurden aufwendig restauriert und um einen neuen Gebäudetrakt erweitert.

Symptomatisch für den erfolgreichen Wandel Lodzs scheint mir auch die Person der Stadtpräsidentin Hanna Zdanowska. Sie gehört der Partei Platforma Obywatelska, also der Partei Donald Tusks. Sie war Abgeordnete des Sejm und ist seit 2010 Stadtpräsidentin von Łódź. Dabei konnte sie sich bei den Kommunalwahlen 2018 bereits im ersten Wahlgang mit 70,2 % der Stimmen durchsetzen und bei den Wahlen 2024 immer noch mit 59,3 %. Dies sind, angesichts der politischen Zerrissenheit Polens hervorragende Zustimmungswerte für eine Politikerin.

Spaziergang über die Piotrkowska 

Soweit zur Historie von Lodz. Wie viele Sehenswürdigkeiten ich zu Gesicht bekomme, weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall mache ich heute einen längeren Spaziergang durch die Stadt. Dabei wandere ich vor allem entlang der Piotrkowska, schaue aber auch in die Seiten- und Parallelstraßen, wenn sich dort besonders Sehenswertes verbirgt.

Die Piotrkowska ist inzwischen zur Hälfte eine Fußgängerstraße und mit ihren über vier Kilometern Länge eine der längsten Einkaufsstraßen Europas. Allerdings dürfen neben den Fußgängern auch Radfahrer, Roller und Fahrradrikschas benutzen, die hier in Massen auftreten und den Verkehr weitgehend bestimmen. Die Piotrkowska erstreckt sich südwärts in gerader Linie vom Plac Wolności (Freiheitsplatz) zum Plac Niepodległości (Platz der Unabhängigkeit). Da meine Unterkunft im nördlichen Teil der Piotrkowska liegt, laufe ich auch erst einmal in nördlicher Richtung zum Freiheitsplatz, der das eine Ende der Piotrowska markiert.

Schon auf den ersten Metern bin ich beeindruckt von den vielen inzwischen auch renovierten und in altem Glanz erstrahlenden Häusern. Es ist schon ein Bilderbuch der Architektur des 19. und 20. Jhdt., das einem hier begegnet.  Ursprünglich war die Piotrkowska Teil der mittelalterlichen Landstraße zwischen Toruń und Kraków. Um in Łódź, wo 1820 kaum 800 Menschen lebten, Leinen-, Baumwollweber und andere textile Gewerke anzusiedeln, wurden den Handwerkern zu günstigen Preisen schmale, aber tiefe Parzellen angeboten. So entstand die noch heute vorhandene Struktur mit den relativ schmalen Fassaden und den durch eine Einfahrt zugänglichen langgestreckten Hinterhofzeilen mit Werkstätten und billigen Wohnungen beiderseits einer engen Gasse. Die Piotrkowska bildet das Rückgrat des rechtwinklig angelegten Plans des südlichen Stadtviertels.

Als sich dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts die kleinen Webereien vergrößerten und sich mit Maschinen ausstatteten, wurden die zur Hauptstraße gelegenen Wohnhäuschen nach und nach durch prachtvolle Villen der Fabrikbesitzer und Händler ersetzt. Der seit 1850 zollfrei zugängliche russische Markt bot ihnen unbegrenzte Absatzmöglichkeiten.

So wird bis heute das Erscheinungsbild der Straße fast vollständig von einer vielfältigen Abfolge prächtiger Fassaden in allen zwischen 1850 und 1900 möglichen Stilen bestimmt, vom späten Klassizismus bis zum frühen Jugendstil. Mit dem Wegfall der großen Vermögen nach 1945 und dem Niedergang der Textilindustrie um 1960–1980 verfiel auch der Glanz der Prachtstraße. Erst ab etwa 1990 wurde sie schrittweise revitalisiert und zu einer Fußgängerzone umgebaut. Stadtplanung, Hotels, Behörden, Restaurants und Clubs, die sich in der Nähe der Piotrkowska-Straße befinden, sind ein wichtiger Bestandteil der Kulturatmosphäre Łódźs. Heute befinden sich in der Straße die meisten und wichtigsten öffentlichen Ämter, Banken, Läden und Restaurants, sowie viele Gaststätten und Kneipen. Hier finden auch zahlreiche Partys, Festivals und Staatsfeiern statt. Seit 1999 wurde die Ulica Piotrkowska mit Bronzeskulpturen geschmückt, die an bekannte Łódźer Persönlichkeiten erinnern. Der Schriftsteller Julian Tuwim und der Pianist Artur Rubinstein wurden so geehrt. Aber auch bürgerliche Stifter konnten sich mit ihren Namen auf bronzenen Pflastersteinen verewigen und so zur Erneuerung der Piotrkowska beitragen. Der damit einhergehende sozioökonomische Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug beginnt seit jüngster Zeit auch die bisher stillen Hinterhöfe zu erfassen. Wie schon gesagt. In dem Hinterhof, wo mein Quartier gibt es inzwischen zwei Gaststätten, einen Barbier und eben die City Center Rooms.

Neben den vielen unbekannten Häusern fällt mir als erstes das Grand Hotel ins Auge. Das Hotel Grand gibt es seit 1887, wurde aber seitdem mehrfach umgebaut, renoviert und erweitert. Nach 1945 wurde das Hotel weiteren Renovierungen unterzogen, bei denen die Fassade ihr ursprüngliches Dekor verlor. Das Hotel wurde von vielen Persönlichkeiten genutzt, m.in. Schriftstellern Władysław Reymont und Henryk Sienkiewicz, den Musikern Artur Rubinstein und Ignacy Jan Paderewski und dem Tenor Jan Kiepura.

Weiter geht es nun bis zur Plac Wolnosci, dem Freiheitsplatz. In der Mitte befindet sich ein Kreisverkehr mit einer Statue des Freiheitskämpfers Tadeusz Kosciuszko. Außerdem befindet sich an diesem Platz das Rathaus. Das Rathaus in Łódź ist eines der ersten Backsteingebäude in der Stadt, errichtet 1827 nach dem Entwurf von Bonifacy Witkowski. Es gilt als das wertvollste und älteste Denkmal der klassischen Architektur in Łódź. Es wirkt aber zur Zeit recht heruntergekommen und wartet sicher auf eine Restaurierung. Dies um so mehr als neben oder gegenüber dem Rathaus nun ein frisch sanierte Kirche steht, die das Rathaus farbenmäßig überstrahlt und unscheinbar erscheinen lässt.

Die Manufactura und der Palast von Izrael Poznanski

Nun werde ich die Piotrkowska erst einmal verlassen und wandere zu der nahegelegenen Manufactura. Die sogenannte Manufactura ist inzwischen einer der bekanntesten postindustriellen Gebäudekomplexe, der zu einem Wahrzeichen von Łódź geworden ist. Es ist das alte Gelände der Textilfabrik von Izrael Kalmanowicz Poznański (1833 in Aleksandrów bis 1900 in Łódź) einem polnisch-jüdischen Philanthrop, Geschäftsmann und Fabrikant. Poznański, gilt als der größte industrielle Lodzer jüdischer Herkunft.

Das Gelände der Textiklfabrik wurde Anfang der 2000er Jahre umgestaltet.  Die riesige Anlage dient heute als Zentrum für Unterhaltung, Kultur und Kunst. Das heutige Kultur- und Unterhaltungszentrum wurde auf dem Gelände der ehemaligen Textilfabrik errichtet. Bis heute sind alle Gebäude erhalten, die den gesamten Zyklus der Textilproduktion abbilden: von der Spinnerei über die Weberei bis zur Veredelung. Die Industriegeschichte des Geländes lässt sich am besten bei einem Besuch des Fabrikmuseums erkunden. Leider bin ich dafür zu kurz in Lodz. Der Investor, der die alte Atmosphäre und Tradition mit der Moderne verbinden wollte, gab dem Gebäude den Namen „Manufactura“ und achtete gleichzeitig auf eine möglichst funktionale Architektur. Die riesige Fläche bietet neben zahlreichen Geschäften auch Platz für kulturelle Einrichtungen wie Museen (das Kunstmuseum MS2, das Fabrikmuseum und das Museum der Stadt Łódź), ein Theater und ein Kino sowie kleine und große Gastronomiebetriebe in Form von Cafés und Restaurants. Manufactura in Łódź hat sich als zentraler Punkt der Stadt etabliert und ist heute ihr Aushängeschild, vergleichbar mit der Piotrkowska-Straße.

In der Nachbarschaft steht der Palast von Izrael Poznański, der sich durch eine üppige Fassade und reiche Innenräume auszeichnete. Schon äußerlich sieht man diesem Gebäude an, dass es sich an den älteren Magnatenresidenzen orientierte, die in Polen häufig eher Schlösser von Königen gleichen, bzw. diese sogar in den Schatten stellten. Heute ist hier das Museum der Stadt Lodz untergebracht. Das Imperium umfasste auch Arbeiterhäuser und Paläste von Nachkommen: Maurycy und Karol Poznański. Ähnlich wie andere Betriebe in Łódź wurde Poznańskis Fabrik nach dem Zweiten Weltkrieg unter staatliche Verwaltung gestellt und funktionierte bis in die 1990er Jahre unter dem Namen „Poltex“.

Weiter geht es durch verschiedene Straßen parallel der Piotrkowska wieder auf sie zurück

Weiter geht es für mich nun durch einige Neben- und Parallelstraßen zurück auf die Piotrkowska. Zunächst komme ich an einem Denkmal für Hanna Scwarz vorbei. Danach geht es am Palast von Karl Pozansky, einem eindrucksvollen Bauwerk eklektizistischer Architektur. Weiter komme ich nun auch durch Straßen, wo noch dringender Restaurierungsbedarf besteht. Freilich gibt es solche Straßen immer noch in allen größeren Städten, die vom Sozialismus vergangener Zeiten heruntergewirtschaftet wurden.

Danach kommt aber noch ein Juwel des Jugendstil in Polen, die Villa von Leopold Kindermann. Das Gebäude ist erst jüngst saniert worden und beherbergt heute eine Galerie. Mich interessiert insbesondere das wohl erhaltene Innere des Hauses und bin selbst erstaunt, dass mein Versuch in  das Haus hineinzukommen tatsächlich gelingt. Hinter der Tür sitzt eine ältere Dame, die mich erstaunt auf polnisch anspricht aber als sie meine hilflose Reaktion sieht und mein Englisch hört spricht sie plötzlich mit mir deutsch. Sie sitzt zwar dort, um Besucher zu empfangen, gerechnet hat sie allerdings wohl mit niemandem. Dass sie deutsch spricht, ist natürlich für mich sehr angenehm. Ich erkläre ihr mein Begehr, das Haus anzusehen und zu fotografieren und sie nickt mit dem Kopf und verweist darauf, dass dies 6 Zloty kosten würde. Nun nicke ich mit dem Kopf. Die Ausgabe von Eintrittskarten ist sie offensichtlich nicht gewohnt und so dauert es etwa 10 Minuten bis der Bezahlvorgang erledigt ist. Dann darf ich mich im Haus frei bewegen und es ist wirklich ein lohnender Besuch, wie die Fotos hoffentlich deutlich machen.

Danach ist es bereits 15 Uhr und ich verspüre Hunger. Ich strebe daher zurück zur Piotrkowska, weil ich dort ein Pfannkuchenhaus entdeckt habe, was ich gerne ausprobieren möchte. Ich kehre dort ein und bestelle. Der Kellner macht mich darauf aufmerksam, dass es etwa 20 bis 390 Minuten dauert. Ich bin zwar nicht begeistert über den Zeitaufwand, aber willige ein und trinke ein alkoholfreies Bier. Nach einer halben Stunde kommt der Kellner mit einem sorgenvollen Gesicht an meinen Tisch und sagt mein Pfannkuchen sei leider verbrannt, ob ich einen neuen wolle, was aber wieder rund 30 Minuten Wartezeit bedeuten würde. Ich war aber ohnehin schon skeptisch warum man 30 Minuten für einen Pfannkuchen in einem nur halb besetzten Lokal braucht. Ich winke ab, bezahle mit knurrigen Gesicht und verlasse das Haus. Unweit ist ja meine Hinterhofgaststätte und ich kehre dort noch einmal ein und esse auch heute wieder eine wohlschmeckende Pizza. Das ist dann erst mal meine Mittagspause.

Der Nachmittagsspaziergang über den südlichen Teil der Piotrkowska

Inzwischen ist es schon nach 16 Uhr und damit  recht spät geworden. Ich habe aber noch vor heute den größten Teil der südliche Piotrkowska zu schaffen. Mein Ziel ist vor allem die weiße Fabrik von Ludwig Geyer zu sehen. Dort wurde die erste Dampfmaschine in Lodz in Betrieb genommen. Heute ist es das zentrale Textilmuseum. In dem Museum werden Textilmaschinen, Werkzeuge, alte und moderne Textilien und Kleidung gezeigt. Das Museum hat aber schon längst zu.

Aber es gibt nicht nur das zu sehen. Was für Lodge auch typisch ist sind zahlreiche Kunstwerke an Häuserwänden. In Polen ist das insgesamt nichts Ungewöhnliches, aber in Lodz hat man es wohl auch besonders gefördert. Es soll hunderte dieser Werke geben. Zwei habe ich nun auch hier in den Bericht eingestellt.

Ansonsten gibt es noch das OFF Piotrowska, eine ehemalige Fabrik von Franz Ramisch. Zur Zeit treffen sich hier vor allen alle die Kultur, Kunst und Essen lieben. OFF Piotrkowska wird als ein einzigartige Projekt in Europa angepriesen, in dem sich Unternehmer aus den kreativen Industrien sammeln. Also habe ich dort eigentlich nichts zu suchen, schaue aber trotzdem mal rein.

Auch die Piotrowska 217 in der ehemaligen Eisengießerei von Josef John befinden sich heute Restaurants und Pubs, die internationale und europäische Küche anbieten. Veggie-Burger, Sushi, Wein, lokales Bier, Schokolade und alles, was das Herz begehrt. Na ja, allzu lange halt ich mich trotz des Weins und des lokalen Bieres nicht hier auf.

Zu erwähnen bleiben noch die beiden wohl größten Kirchen in Lodz, die auch an der Piotrkowska und zwar eigentlich in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Da ist zum einen die Stanislaus-Kostka-Kathedrale. Sie wurde von 1901 bis 1912 im neugotischen Stil erbaut und 1922 mit der Bildung der Diözese Łódź zur Kathedrale erhoben. Hier gelingt es mir sogar noch einen Blick hineinzuwerfen.

Zum anderen ist da die St.-Matthäus-Kirche (św. Mateusz) der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen an der Piotrkowska 283. Sie wurde von 1909 bis 1928 mit Bauunterbrechung in der Zeit des Ersten Weltkriegs in Zusammenarbeit im neuromanischen Stil errichtet. Sie ist einer der größten Sakralbauten der Stadt mit der größten Orgel Polens, erbaut 1928 von der Firma Rieger Orgelbau in Jägerndorf. Die 26 Meter hohe Kuppel der Kirche hat einen Durchmesser von 17 m, der Kirchturm ist 80 Meter hoch. Leider kann ich hier nicht mehr reinschauen. Sie ist inzwischen verschlossen.

Nachdem ich hier auf alles einen Blick geworfen habe, geht es zurück in mein Quartier. Doch vorher möchte ich schon noch feststellen, dass mich Lodz schon sehr beeindruckt. Ich weiß zwar nicht warum Vicky Leandros mit ihrem Theo nach Lodz fahren wollte. Mich beeindruckt der Wandel der hier vollzogen wird von einer Industriestadt zu einer multikulturellen Kultur-  und Dienstleistungsmetropole mit neuen Industrien, qualifizierten Bildungseinrichtungen und mit einer inzwischen ausgestrahlten Lebendigkeit, die sicher nicht nur der Stadt, sondern dem ganzen Land gut tut. Freilich bin ich noch weit davon entfernt diese Stadt wirklich zu kennen. Aber auch wenn ich übermorgen wieder hier abfahre, möchte ich gerne wiederkommen, um diese statt weiter kennenzulernen. Das Wars aber nun für heute.

 

 

Ein Kommentar

  • Steffi sagt:

    Lieber Wolfgang, danke für den „Rundgang“ durch Lodz. Dann genieße noch die Zeit dort und dann gute Weiterreise. Sonnige SommerGrüße aus Leipzig von Steffi

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