Der Tag verspricht schön zu werden und endet dann doch ganz anders als geplant! Erstmals ziehe ich die Sandalen an und versuche auch sonst mit den Textilien sparsam umzugehen. Kurze Hose lasse ich noch. Aber primär, weil ich der Meinung bin, dass Männer ihre Beinkleider nur im Notfall ablegen sollten. Männerbeine sind nun in den meisten Fällen kein ästhetischer Anblick. Da haben wir einen eindeutigen geschlechtsspezifischen Nachteil. Den Notfall lasse ich erst ab über 25 Grad für Fahrradfahrer gelten. So hohe Temperaturen haben wir aber noch nicht.
Zunächst mache ich eine kleine Rundfahrt durch Tulln. Tulln ist Bezirkshauptstadt des gleichnamigen Bezirks, also wohl bei uns einer Kreisstadt entsprechend. Neben seiner Erwähnung im Nibelungenlied hat es auch eine Bedeutung als Standort eines römischen Reiterkastells gehabt und ist, was ich auch erst im Laufe des Vorabends registriert habe, der Geburtsort Egon Schieles, einem der bedeutendsten Vertreter des Expressionismus und der bildenden Künstler der Wiener Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts. Entlang der Donau reihen sich dann auch Denkmäler dieser drei Ereignisse bzw Personen. Alle diese Denkmale sind von dem österreichisch-russischen Bildhauer Michail Nogin geschaffen und sind jüngeren Datums. So entstand das Denkmal für Egon Schiele im Jahre 2000, das Reiterstandbild Marc Aurels 2001 und das Nibelungendenkmal 2005. Bei dem Reiterstandbild Marc Aurels handelt es sich aber wohl nur um einen Abguss des Originals auf dem Kapitolshügel in Rom. Das Nibelungendenkmal ist eine doch recht aufwendige Gruppe mit überlebensgroßen Figuren, in deren Zentrum die Begegnung zwischen Kriemhild und Etzel steht. Egon Schiele lehnt lässig an seiner Staffelei, auf der eines seiner charakteristischen und zu seiner Zeit anstößigen Frauenbildnisse zu sehen ist. Sie wurde der Pornografie bezichtigt und Schiele musste deshalb auch mehrere Wochen im Gefängnis verbringen. Meine weitere Rundfahrt führt mich dann noch an das Geburtshaus von Egon Schiele, das das Tullner Hauptbahnhofsgebäude ist, wo sein Vater Bahnvorstand war.
Nachdem ich mich bei Aldi noch für den Tag mit Bananen und spezifisch österreichischen Schinken-Käse-Brötchen, Wasser und Blauen Zweigelt eingedeckt hatte, wollte ich los. Vorgesehen hatte ich, mich nicht lange in dem lediglich 25 Kilometer entfernten Wien aufzuhalten, weil ich in dieser Stadt vor einigen Jahren schon eine Woche verbracht hatte. Das Wetter war schön und so drängte es mich auch, dies zu nutzen, um an der Donau weiterzukommen. Inzwischen habe ich übrigens schon über 2.500 Kilometer zurückgelegt und „nur“ noch rund 2.000 liegen vor mir wie man an den Kilometermarken der Donau ablesen kann. Allerdings hatte mich ein merkwürdiges Verhalten meines Fahrrads in den letzten Tagen und vor allem in den letzten Stunden doch erheblich verunsichert. So war es in den letzten Tagen schon häufiger passiert, dass es mal knackte, so als würde die Kette über einen Zahn des Ritzels hinwegspringen. Ich hatte mir zunächst nichts dabei gedacht, weil ich das Fahrrad ja gerade in Ingolstadt in der Inspektion und dort auch um Kontrolle von Kette und Ritzel gebeten hatte. Nun aber war es heute Morgen so, dass es mehrfach richtig durchratschte und ich insbesondere keine Steigung mehr fahren konnte.
Da ich dank Wolfgang Konnerths Recherchen wusste, dass es in Wien eine Fahrradwerkstadt gibt, die sich mit Pinion-Schaltungen auskennt und das Ritzel auch zu den Teilen einer Pinion-Schaltung gehört, strebte ich erst einmal nach Wien und da die Strecke flach verlief, war das auch kein Problem, bis der erste Bahnübergang kam und man eine Steigung von etwa einem Meter überwinden musste. Die Kette ratschte mit lautem Gratschen durch und ich kam nicht weiter und sah für die Vorbeifahrenden wohl ziemlich dämlich und kurios aus. Danach ging es zwar wieder, aber meine Verunsicherung war nun doch sehr groß und mir war klar, dass ich so nicht mehr weit käme. Ich beriet mich dann auch noch telefonisch mit Wolfgang Konnerth, der inzwischen mein Chefberater in technischen Fahrradfragen ist und auch – Respekt! – eine Menge davon versteht. Er tippte auch auf das Ritzel, meinte aber ich solle es auch noch mal mit Ölen an bestimmten Teilen versuchen. Das machte ich dann auch und dabei löste sich die Kette vom hinteren Ritzel. Als ich dieses dann sah, brauchte ich auch nicht mehr weiter ölen. Eigentlich wunderte ich mich nur noch wie ich mit so einem Ritzel so weit gekommen bin, denn etwa die Hälfte der Zähne des Ritzels waren eigentlich gar nicht mehr vorhanden. Ich verfluchte die Fahrradwerkstätten für ihre Inspektionen, weil ich mir nun wirklich nicht vorstellen kann, dass dies sich in einer Woche und nach 600 Kilometern so entwickelt hat. Ich bestieg mein Fahrrad also mit etwas mulmigem Gefühl, aber seltsamerweise ging es bis auf einige unbedeutende Steigungen, die ich schieben musste, nach wie vor recht gut und so erreichte ich am frühen Nachmittag Enzovelo im Bezirk Brigittenau unweit des Franz-Josefs-Bahnhofs und wurde für einen Fahrradladen ausgesprochen freundlich wohl vom Inhaber Heinz „Enzo“ Wipplinger begrüßt. Man sah auch gleich, dass hier Erfahrungen mit Pinion-Schaltungen gegeben sein müssten, denn es standen zahlreiche hochwertige Fahrräder mit Pinion-Schaltungen in dem Laden herum. Wir waren uns auch schnell einig, was gemacht werden müsse und dass es nicht ganz preiswert sei.
Enzo meinte aber, dass er diese Teile nicht vorrätig habe, weil sie natürlich nicht so häufig gebraucht würden. Wenn er sie heute bestelle, gingen sie bei Pinion frühestens morgen raus und könnten frühestens Donnerstag da sein. Das bedeutet für mich nun einen längeren Zwangsaufenthalt in Wien. Gut, es könnte Schlimmeres geben als ein erzwungener Aufenthalt in Wien. Aber zunächst musste ich ein Quartier für mindestens drei Nächte finden. Das war, wenn es unter 1000 € sein sollte gar nicht so einfach, denn Wien scheint um diese Jahreszeit praktisch ausgebucht. Schließlich fand ich über booking.com ein Apartment, also ohne Frühstück, in der Nähe des Praters, also etwa 4 Kilometer von Brigittenau entfernt, für etwa 200 €. Was blieb mir anderes übrig als hier zu buchen. Auch meine Versuche eine günstigere Pension zu finden waren fehlgeschlagen. Ich schickte mich also an mit meinem defekten Fahrrad und meinem Gepäck durch Wien zu fahren und in meiner Unterkunft erst mal das Gepäck abzuladen. Als ich nun vor dem Quartier ankam, einer nicht gerade sonderlich einladenden sechsstöckigen Mietskaserne aus den sechziger Jahren, suchte ich vergeblich nach einem Ansprechpartner und stand etwas irritiert herum. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir dann, dass eine neue Mail angekommen war und siehe da, dort wurde mir mitgeteilt, dass ich den Schlüssel für das Apartment in einem Hotel etwa 3,5 Kilometer entfernt abholen müsse. Na toll, also weiter ging´s entlang des Praters. Die Übergabe des Schlüssels verlief dann problemlos. Nachdem ich mein Gepäck schnell abgelegt habe, brachte ich nun das Fahrrad endgültig zu Enzo, der mir mitteilt, das die notwendigen Ersatzteile schon bestellt seien und sie bei Pinion auch morgen gleich rausgingen.
Als ich nun nach meiner Rückkehr mein Apartment in Augenschein nehme, brauche ich zunächst einmal einen längeren Gewöhnungsprozess. Es ist eine etwa 100 qm Wohnung mit vier Zimmern und sieben Betten, die ich nun für drei Tage „mein“ nennen kann. Die Einrichtung stammt aus den sechziger Jahren und ist seitdem auch nicht erneuert worden. Die Küche Spanplatten mit Resopal beschichtet und halt fünfzig Jahre mehr oder weniger genutzt. Das Wohnzimmer vom feinsten, die Sitzgarnitur würde ich als Gelsenkirchener Barock bezeichnen, die Schrankwand hat es noch nicht einmal dazu geschafft. Sie ist zeitlos sachlich und holzfuniert und enthält Porzellanfiguren und sonstigen Nippes der einfachsten Art. Der Teppichboden ist sicher noch der erste. Florales barockes Design wie unsere Elterngeneration es damals liebte. Inzwischen ist er etwas wellig, so dass man aufpassen muss, nicht zu stolpern. Das Badezimmer und eine Gästetoilette mit rosafarbener Badezimmerkeramik zeichnen sich auch durch den damaligen Geschmack aus und das Geschirr in der Küche scheint auch noch die Erstausstattung zu sein. So etwas wie ein Bier- oder gar ein Weinglas sind offensichtlich im Laufe der Zeit abhanden gekommen. Immerhin drei Wassergläser offensichtlich etwas jüngeren Datums sind nutzbar und sollen den Verlust der übrigen Gläser wohl kompensieren.
Das Schönste an der Wohnung ist eigentlich eine etwa 25 qm große Dachterrasse, allerdings ist die Balkontür verschlossen, so dass eine Nutzung nicht möglich ist. Ich habe auch eine Waschmaschine und einen Geschirrspüler. Waschmittel gibt es leider nicht und so werde ich sie wohl auch nicht nutzen, weil mir die Investition für drei Kilo Waschmittel nicht so lohnend erscheint und das Essgeschirr werde ich wohl auch meiden. Aber man soll ja nicht alles schlecht reden, sondern auch das Positive hervorheben. Das WLAN ist super! Nachdem ich mich erst einmal an alles gewöhnt habe, lasse ich den Abend in einer nahegelegenen Pizzeria in der Praterstraße ausklingen.
Tagesdaten: 58,77 km/04:14 Std. Fz/13,86 km/h/65 Hm aufwärts/68 Hm abwärts.
Lieber Herr Kohl,
Technik, die begeistert. So könnte man Ihren heutigen Tag beschreiben. Aber Sie tragen es mit einer großen Gelassenheit und dafür großes Kompliment. Ich wäre wahrscheinlich unter diesen dargestellten technischen Problemen ziemlich verzweifelt.
Aber heute ist mir etwas ganz anderes in den Sinn gekommen. Ich habe noch einmal Tag 1 aufgerufen und mir Gedanken über 30 kg Gepäck gemacht. Warum braucht ein Mann 30 kg Gepäck? Ich bin zwar nur Wanderer und der trägt bekanntlich sein Gepäck auf dem Rücken und minimiert schon aus diesem Grund. Aber ich beabsichtige im nächsten Jahr den ersten Teil meiner Europareise mit dem Motorrad durchzuführen. Und außer Regenkleidung , leichter Bekleidung und einer warmen Jacke braucht man doch eigentlich nichts. Oder haben Sie einen schweren Werkzeugkasten dabei? Also hier müssen Sie mich irgendwann einmal aufklären.
Und zum erzwungenen Aufenthalt in Wien kann ich Ihnen nur gratulieren. Wien ist eine so tolle Stadt, da werden Sie sich richtig austoben. Und dann schauen Sie sich mal die Bilder von Schiele, Klimt und seinen Zeitgenossen an. Ich muß es einmal in jedem Jahr sehen, sonst habe ich Entzugserscheinungen.
Also trotz der „bescheidenen“ Unterkunft eine schöne Wiener Zwangspause.
Beste Grüße
Ihr
Werner Hempel