Das Frühstück war heute recht bescheiden. Nur ein Eieromlett mit etwas Schinken, drei kleine Scheiben Weißbrot und drei Scheiben Käse. Dazu gab es aber immerhin zwei Tassen Kaffee. Kurz nach 8 Uhr kam ich dann los und in 20 Minuten war ich durch beide Grenzkontrollen durch. Am längsten war der Fußweg zwischen Russland und Estland über die Narva. Ähnlich wie die Newa in Sankt Petersburg der Abfluss für den Ladogasee ist, ist die Narva hier der Abfluss für den Peipussee. Auch sie ist keine 80 Kilometer lang.
Bei meinem Gang über die Narva denke ich darüber nach, was ich vor 30 Jahren gesagt hätte, wenn mir jemand vorausgesagt hätte, dass ich mal mit dem Fahrrad durch Russland, die baltischen Staaten und Polen reisen würde. Wahrscheinlich hätte ich ihn für verrückt erklärt, sowohl was die Möglichkeit einer solchen Fahrradtour aber auch was die politische Möglichkeit einer solchen Reise betrifft. Man sieht aber daran, was sich in einer Generation sowohl bei einem selbst als auch politisch verändern kann. Meine Generation ist in dieser Beziehung eine sehr glückliche Generation. Hoffentlich bleibt es noch eine Weile so.
In Narva versorge ich mich erst einmal mit einigen Euro aus dem Geldautomaten. Inzwischen gehören ja alle drei baltischen Staaten zum Euroraum. Danach wechsle ich die russische Sim-Karte in meinem Navi-iPhone wieder mit der deutschen von Telekom. Leider brauche ich einige Zeit und Versuche, um aus dem russischen Netz rauszukommen und ein für mich kostenneutrales Netz aus Estland zu erhalten. Dann geht es los. Die Landschaft hat sich gegenüber der der letzten Tage wenig verändert. Vielleicht ist sie noch etwas flacher geworden. Große Steigungen sind wirklich nicht zu bewältigen. Während Narva noch wie eine mittelgroße Stadt in Russland wirkt, sie wird auch überwiegend von Russen bewohnt, zeigen sich je weiter man nach Westen kommt, doch deutliche Unterschiede gegenüber Russland. Estland wirkt doch erheblich adretter und gepflegter. Keine zusammenfallenden Häuser und selbst die Ruinen sehen gepflegter aus, so als würden sie kurz vor ihrer Reanimierung stehen.
Mein Ziel in den nächsten Tagen ist ja Tartu. Für die etwa 200 Kilometer bis dahin habe ich drei Tage eingeplant. Heute sollen es etwa 75 Kilometer sein. Eine Zwischenstation soll das Nonnenkloster Pühtitsa in Kuremäe sein. Ich verlasse mich auf mein Navi, lande aber leider, nachdem ich die E 20 verlassen habe, im wahrsten Sinne des Wortes im Sand. Hier soll ein Weg oder eine Straße rekonstruiert werden. Bisher sind aber nur faustgroße sehr scharfkantige Steine, die mit Sand gemischt sind einfach flächenmäßig aufgetragen. Sie sind weder planiert noch sonst wie befestigt. In diesem Gemisch kommt man kaum vorwärts und ich muss schon sehr bald absteigen, weil fahren nicht mehr geht. So kehre ich kurz entschlossen die 10 Kilometer auf die E 20 zurück und fahre dort weiter. Wie immer ist es allein schon wegen des Lärms nicht angenehm auf einer Europastraße zu fahren. Aber ähnlich wie in Russland verfügt sie über einen breiten Seitenstreifen, der ein bequemes Fahren möglich macht. Das Kloster muss ich mir wohl sparen. In Jöhvi biege ich dann ab und fahre recht gemütlich auf einer Nebenstraße. Hier verlasse ich dann endgültig den Iron-Curtain-Trail für diese Reise. Als die Straße zu meinem Zielort abbiegt, merke ich anhand der Hinweisschilder, dass ich nur zwei Kilometer vom Kloster in Kuremäe entfernt bin. Also mache ich diesen kleinen Umweg noch, um dem Kloster einen kleinen Besuch abzustatten. Ich war vor 14 Jahren schon einmal dort.
Das Kloster wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut und ist ein schönes Beispiel für russischen Historismus. Hintergrund des Klosterbaus ist, dass es nach einer orthodoxen Legende in Kuremäe im 16. Jahrhundert zu einer Erscheinung gekommen sein soll. Später sei unter einer alten Eiche eine Ikone gefunden worden. Ich mache einen kurzen Rundgang durch die Klosteranlage. Inzwischen ist es aber schon 17:30 Uhr, so dass ich mich sputen werde, um nun die restlichen knapp 20 Kilometer für heute hinter mich zu bringen. Mit dem Abstecher hat sich dann die heutige Etappe auf etwa 100 Kilometer verlängert. Inzwischen haben mir meine heutigen Vermieter mitgeteilt, dass sie zu der von mir avisierten Ankunftszeit nicht da sein werden, die Tür zum Gästehaus aber offen sei. Der Hund auf dem Gelände müsse mir keine Angst machen, er sei „friendly“.
Gegen 19 Uhr habe ich dann mein heutiges Ziel erreicht. Die letzten zwei Kilometer gingen dann noch einmal über eine ähnliche Schotterstrecke wie die, an der ich heute Morgen gescheitert war. Auch hier wird wohl eine neue Straße gebaut. Dass Grundstück liegt sehr einsam auf einer Waldlichtung. Bobby, der Hund, begrüßte mich mit kräftigem Gebell, war aber tatsächlich nicht aggressiv, sondern wurde, nachdem ich ihm freundlich zuredete, immer zutraulicher. Nach einigen Minuten kam auch die Vermieterin, die hier offensichtlich mit ihrem erwachsenen Sohn lebt, der einige Zeit später kam. Sie fragte mich, ob ich irgendwelche Wünsche hätte. Ich verneinte das, weil ich davon ausging, dass es sich um eine Unterkunft mit Selbstversorgung handele. Dies ist auch grundsätzlich so. Dennoch ist das Kühlfach des Kühlschranks voll mit Tiefkühlgerichten. Mir reichte, dass auch Kaffee vorhanden ist. Ansonsten ist es ein sehr schönes Holzhäuschen mit Wohnraum und integrierter Küche und Bad und WC im Untergeschoss und mit dem Schlafbereich im Dachgeschoss. Sechs Betten stehen mir zur Verfügung. Da werde ich wohl wieder die Qual der Wahl haben.
Tagesdaten: 101,89 Km; 07:53:56 Std. Fz.; 12,89 Km/h; 234 Hm