Der Tag wird wieder schön, sonnig und Temperaturen um die 22 Grad. Das Frühstück ist auch hier in Sztynort ausgezeichnet und heute habe ich nur etwa 50 Kilometer vor mir. Das Pensjonat, in dem ich übernachtet habe, ist ein altes, restauriertes und umgebautes Wirtschaftsgebäude des Gutes Steinort. Nach dem Frühstück mache ich mich auf, um das Gut noch näher zu erkunden. Etwas versteckt aus der Perspektive des Pensjonats liegt das alte Gutshaus, das sich leider in einem beklagenswerten Zustand befindet. Zwar hat die Polnisch-deutsche Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz das Anwesen erworben um es zu erhalten, aber es scheint noch an Geld zu mangeln, um den Restaurationsaufwand, der auf 30 bis 40 Mio. EURO geschätzt wird, tatsächlich zu stemmen. Lediglich die notwendigsten Maßnahmen zur Verhinderung eines Einsturzes des Gutshauses konnten seit 2009 bewältigt werden. Auch ein Gedenkstein zum 100. Geburtstag von Heinrich Graf von Lehndorff wurde 2009 vor dem Schloss aufgestellt. Obwohl es hier schon Initiativen gegeben hat, ist der Park des Gutes sehr verwildert. Die früheren Sichtachsen auf die beiden Seen, die die Halbinsel umgeben, auf der Sztynort liegt, sind heute zugewachsen. Es wäre ein Jammer, wenn dieses geschichtsträchtige Ensemble nicht erhalten werden könnte. Es wäre schön, wenn auch hier so etwas wie in Krzyzowa (Kreisau) in Schlesien gelingen könnte, wo das alte Schloss der Familie von Moltke restauriert wurde und eine internationale Jugendbegegnungsstätte eingerichtet wurde.
Auf meinem Spaziergang durch den Park treffe ich ein junges Ehepaar aus dem Vogtland. Gert und Birgit Michel sind für eine Woche hier nach Masuren gekommen und Birgit erzählt mir, dass sie auch über die Beschäftigung mit Marion Dönhoff hier auf das Gut in Sztynort aufmerksam geworden sei. Als ich sie frage wie sie als junge Frau aus dem Vogtland auf Marion Dönhoff aufmerksam geworden sei, erzählt sie, dass sie sich schon immer für alte Schlösser interessiert habe und dabei auf diesen Namen gestoßen sei. Sie scheint sich auch schon intensiv mit der Literatur von und über Marion Dönhoff beschäftigt zu haben.
Auf einer Schautafel habe ich gesehen, dass es in etwa 2,5 Kilometer Entfernung mitten im Wald noch eine Grabkapelle der Lehndorffs gibt, die aber seit 1945 mehrfach geplündert und zur Ruine geworden ist. Es soll allerdings zurzeit mit einem Projekt der TU Dresden zumindest der kostbare Dachstuhl saniert werden. Ich schnappe mir also mein Fahrrad und fahre dorthin. Die Grabkapelle ist wirklich sehr verwunschen auf einer kleinen Anhöhe unweit des Labansees gelegen. Es ist ein sechseckiger turmähnlicher Ziegelbau mit neogotischen Elementen, der 1855 errichtet wurde. Die Planungen für diese Grabkapelle stammen von Friedrich August Stüler, dem Architekten des preußischen Königs Wilhelm IV. Man sieht zwar, dass an dem Dachstuhl gearbeitet wird, so scheint die Dachbalkenkonstruktion schon wieder errichtet zu sein. Allerdings sieht man heute niemanden, der hier arbeitet. Ein Blick in die Gruft der Kapelle macht deutlich, dass hier keine Gräber mehr sind. Dagegen ist vor der Kapelle ein kleiner Friedhof, auf dem offensichtlich verdiente Bedienstete des Gutes ihre letzte Ruhestätte fanden.
Am späteren Vormittag verlasse ich dann Sztynort und mache mich auf den Weg zur Wolfsschanze. Es sind etwa 20 Kilometer bis dorthin. Ich hatte mir lange überlegt, ob ich mir die Wolfsschanze ansehen will, weil diese NS-Relikte mich meisten bedrücken. Auf der Zufahrt merke ich regen Verkehr und bin überrascht über den Auftrieb, der hier herrscht. So kommen mir auch öfter alte Militärfahrzeuge entgegen, die offensichtlich ähnlich wie eine Parkeisenbahn, die Touristen in und um die Wolfsschanze herumfahren. Am Eingang werden 15 Zloty (ca. 3,50 €) kassiert, was sicher nicht zu viel ist. Mein Fahrrad kann ich direkt am Kassenhaus abstellen und ich habe den Eindruck, dass die hier ebenfalls sich aufhaltenden Führer ein Auge auf die Räder werfen und eventuelle Auffälligkeiten auch nicht ohne weitere durchgehen ließen. Zumindest beruhigt mich diese Einschätzung. Natürlich nehme ich die wertvolleren Dinge wie Handy, Navi und Powerbank aus meiner Lenkertasche und verstaue sie im Rucksack. Der Laptop muss natürlich hier bleiben. Aber es sieht ja niemand der Fahrradtasche an, dass hier ein Laptop drin ist und außerdem ist es auch nicht ganz einfach dran zu kommen, weil ja noch eine Tasche quer über den beiden Fahrradtaschen befestigt ist.
Hinter dem Eingang folgt erst einmal ein Biergarten und Eisstand. Es gibt einen Meetingpoint, wo man sich wohl für die Besichtigungstouren einfindet. Die Frau, die das koordiniert, erzählt mir wie es abläuft und sagt mir dann noch, dass man sich auch eine Karte mit Erläuterungen im Buchladen kaufen könne. Ich entscheide mich für Letzteres, weil mir schon der Gedanke ein Gräuel ist, in einer solchen Gruppe mitzulaufen und selbst wenn die Führung auf Deutsch ist, wenig zu verstehen. Der Buchladen erweist sich eher als Souveniershop. Ich bekomme zwar für 5 Zloty meinen Plan aber man kann vor allem T-Shirts mit markanten Wolfsköpfen und der Aufschrift „Wolfsschanze“ oder der polnischen Aufschrift „Wilczy Szaniec“ erwerben. Aber man kann hier auch Attrappen von Handgranaten, Gasmasken und Helme erwerben. Ich begnüge mich dann doch mit einem Lageplan.
Angesichts des schönen Tages heute ist der Besucherandrang offensichtlich besonders groß. Während meines einstündigen Rundgangs sehe ich mindestens 20 Gruppenführungen mit jeweils etwa 30 Personen. Dazu kommen noch unzählige Einzelbesucher, die es wie ich machen. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl hier durch die Wolfsschanze zu laufen, die sich heute nur noch als gewaltige Trümmerlandschaft darstellt. Die Anlage, die erst 1940 errichtet wurde, umfasste ursprünglich 40 Wohn-, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude sowie sieben massive und 40 leichte Stahlbetonbunker. Die Decken der Bunker waren sechs bis acht Meter dick. Die Anlage verfügte über einen Bahnanschluss und über einen eigenen Flugplatz. Sie war von einem 50 bis 150 Meter breiten Minengürtel umgeben.
Nachdem Hitler im November 1944 die Wolfsschanze vor den anrückenden sowjetischen Truppen verließ, übernahm zunächst ein Armeestab für einige Wochen die Anlage. Im Januar 1945 wurden die einzelnen Bunker und Objekte von der nun vor der Sowjetarmee zurückweichenden Wehrmacht gesprengt. Zwischen 1945 und 1955 wurden hier ca. 54 Tsd. Minen entschärft. Noch heute warnen Schilder, nicht von den ausgewiesenen Wegen abzuweichen. Seit 1959 ist das Gebiet der Wolfsschanze für Touristen zugänglich und wird jährlich von etwa 200 Tsd. Personen besucht. Davon sollen 55Prozent polnische Touristen sein und 30 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum kommen. Das Gebiet der Wolfsschanze ist heute gleichzeitig ein geschütztes Biotop für Fledermäuse.
Natürlich bewegt mich besonders der Platz vor der ehemaligen Baracke, in der Stauffenberg das Attentat verübte. Von der Baracke sind freilich kaum noch die Grundfesten sichtbar. Eine Schautafel skizziert minutiös den Ablauf des Tages von Graf Stauffenberg und zeigt einen Plan, wer wo bei dem Anschlag sich in der Baracke aufhielt. Vor den Ruinen liegt eine Gedenktafel in Form eines aufgeschlagenen in der Mitte sich auflösenden Buches mit einer Inschrift in Polnisch und Deutsch, die auf das Attentat Stauffenbergs hinweist und das er und viele andere dies mit ihrem Leben bezahlen mussten. Sie wurde am 20. Juli 1992 vom deutschen Botschafter in Polen in Anwesenheit der drei Söhne Stauffenbergs enthüllt.
Insbesondere die sieben massiven Bunker für die NS-Führungsspitze wie Hitler, Borrmann, Göring und Keitel, der Gästebunker und der Nachrichtenbunker lassen einen doch erahnen, in was für einer absurden Atmosphäre diese Paranoiker gelebt haben. Sie haben sich ihr eigenes Lager geschaffen und sie haben gelebt in Bunkern ohne Fenster also nur mit künstlichem Licht und werden von der realen Welt nur noch sehr wenig mitbekommen haben. Wenn es nicht solche Verbrecher gewesen wären, könnten sie einem fast leid tun. Man kann sich fast hineinversetzen wie die Atmosphäre manche absurden, menschenverachtenden und auch brutalen Entscheidungen trotz aller kriminellen Prädisposition begünstigt hat. In dieser Atmosphäre war man nicht mehr von dieser Welt.
Sinnbildlich dafür ist natürlich vor allem der Bunker Adolf Hitlers. Das Fundament reicht 7 Meter tief in die Erde, die Wände sind fünf Meter und die doppelte Bunkerdecke ist 8 Meter dick, da blieb trotz der Ausmaße nicht mehr viel Platz zum Leben. So bestand Hitlers Wohnung darin aus einem Arbeitsraum, einem Besprechungsraum, einem Schlafraum, einigen kleineren Räumen für Diener, einem Flur, einer Dusche und einem WC. Ein kenntnisreicher Zeitzeuge der damaligen Zeit, nämlich der langjährige Hitlervertraute Albert Speer, beschrieb diesen Bunker in seinen Erinnerungen daher sehr treffend: „ Wenn etwas als Sinnbild einer Situation, ausgedrückt durch einen Bau, angesehen werden kann, dann dieser Bunker: von außen einer altägyptischen Grabstelle ähnlich, war er eigentlich ein Betonklotz, ohne Fenster und direkte Luftzufuhr, im Querschnitt ein Bau, dessen Betonmassen den nutzbaren Raum um ein Vielfaches überstiegen. In diesem Grabbau lebte, arbeitete und schlief er. Es schien, als trennten ihn die fünf Meter dicken Betonwände, die ihn umgaben auch im übertragenen Sinne von der Außenwelt und sperrten ihn ein in seinen Wahn“.
Es ist sicher mit Recht streng verboten, die Bunkerruinen zu betreten, dennoch halten sich die Besucher kaum daran und es wird auch nicht unterbunden. Manche steigen auch für ein Selfi auf die Bunker hinauf. Sehr merkwürdig wirken auch manche Abstützaktionen von schrägstehenden Betonwänden durch dürre Äste und schlanke Baumstämme, deren Sinnhaftigkeit mir verborgen blieb. So marschiere ich mit sehr gemischten Gefühlen durch die Anlage und finde, dass die Aufmachung als Touristenattraktion dieser Zentrale der organisierten Kriminalität in keiner Weise Rechnung trägt. Das gilt selbst da, wo die Polen einen der leichten Bunker als Erinnerungsstätte für den Aufstand im Warschauer Getto hergerichtet. Neben einigen allgemeinen Bemerkungen zum heldenhaften Kampf in mehreren Sprachen und einigen die Wände bekleidenden Fotos stehen im Mittelpunkt ein alter originaler deutscher Panzer und ein gepanzerter Mannschaftswagen, die den Raum dominieren.
Ich kann mich insgesamt der Einschätzung des Autors des Artikels „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ bei Wikipedia nur anschließen: „An einer seriösen Präsentation des Bunkergeländes mangelt es“. In Deutschland würde ich diese Präsentation als Skandal empfinden, weil sie in ihrer Positionslosigkeit und Eventausrichtung eine Verharmlosung der NS-Vergangenheit darstellt. So besteige ich doch mit sehr gemischten Gefühlen mein Fahrrad.
Es sind noch 30 Kilometer, die mich von meinem heutigen Ziel trennen. Über Ketrzyn (Rastenburg) und den Wallfahrtsort Swieta Lipka (Heiligelinde) fahre ich meinem Ziel Reszel (Rössel) entgegen. In Ktrzyn drehe ich ein kleine Runde, um einen Blick auf die alte Ordensburg und die ebenfalls vom Deutschen Orden erbaute mächtige St-Georgskirche zu werfen. Papst Johannes Paul II., der hier in Polen natürlich fast überall präsent ist, hat ihr 1999 den Basilka-Titel verliehen. In Swietka Lipka mache ich eine ziemlich verspätete Mittagspause und bereite mir auf einer Bank vor der gewaltigen von den Jesuiten erbauten barocken Basilika und Klosteranlage ein Müsli und studiere beim Essen bei Wikipedia dem Hintergrund dieses Wallfahrtsortes. Der Kult geht wohl zurück auf eine Sage aus dem 14. Jahrhundert. Ein in Rastenburg Verurteilter soll auf Intervention von „Unserer Lieben Frau“, damit ist wohl Maria gemeint, eine Figur ihres Kindes gefertigt haben. Nachdem er wegen der Skulptur freigelassen wurde, hängte er die Figur an eine Linde. Danach sollen sich um diese Linde herum viele Wunder ereignet haben. Allerdings weist der Begriff „heilige Linde“ zurück auf einen heidnischen Kultplatz der Prußen, bei denen die Linde das Symbol des Gottes Puschkait, eines Erdgottes war. So kann man den Wallfahrtsort als Fortsetzung eines heidnischen Kultplatzes mit anderen Mitteln betrachten, was zeigt, dass die Deutschordensritter und die katholische Kirche, wenn es passte, doch auch sehr pragmatisch bei der Christianisierung vorgehen konnten.
Mein heutiges Ziel ist die Ordensburg von Reszel, in der sich ein Hotel befindet, wo ich ein recht uriges Zimmer gebucht habe. Das Zimmer ist aber trotz allem mittelalterlichen Flairs und Geruchs auch recht nobel und angenehm eingerichtet. Praktischerweise gibt es im Schlosshof auch ein Restaurant, so dass ich diesen ereignisreichen Tag hier in aller Ruhe ausklingen lasse.
Tagesdaten: 57,74 Km; 04:42:22 Std. Fz.; 12,26 Km/h; 345 Hm