Heute gelingt es mir zum ersten Mal, mein Fahrrad mit im ICE nach Berlin zu transportieren. Es ist schön, dass die Bahn diese Möglichkeit nun endlich geschaffen hat, allerdings sind die Stellplätze rar. In meinem Zugteil sind es gerade einmal drei. Das führt dazu, dass man oft frustriert ist, weil einem bei der online-Buchung dann ganz am Schluss mitgeteilt wird, dass man nicht buchen kann, weil die Stellplätze für Fahrräder ausgebucht sind. Auch ich hatte erst nach dem dritten Versuch Glück und musste nun zwei Züge früher fahren als ursprünglich beabsichtigt.
So erreiche ich Berlin bereits um 9:30 Uhr. Die Fahrt verläuft problemlos und planmäßig. Mein Sohn Alex ist noch nicht am Bahnhof, um mich abzuholen und so muss ich noch bis 10:15 Uhr warten, bis er auftaucht. Da ich ihm einen Helm und eine Fahrradtasche mitgebracht habe, müssen wir erst einmal packen und den Helm richtig einstellen. Danach geht es los. Wir fahren auf dem kürzesten Weg zum Potsdamer Platz, wo der Mauerradweg nach dem bikeline Tourenbuch beginnt. Der Verkehr in Berlin ist beträchtlich und teilweise gibt es auch (noch) keine Radwege und häufig geht es im Zentrum von Berlin auch über Kopfsteinpflaster. So kommen wir zunächst nur recht langsam vorwärts. Es geht vorbei am ehemaligen preußischen Landtag, dem heutigen Abgeordnetenhaus von Berlin, am Martin-Gropius-Bau und an dem Ausstellungsgelände „Topographie des Terrors“, wo das frühere Prinz-Albrecht-Palais stand, der ehemalige Sitz der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes, von dem aus die Unterdrückung, Deportation, Ausbeutung und Vernichtung von Millionen Menschen in Deutschland und Europa organisiert wurde.
Wir kreuzen die Friedrichstraße am ehemaligen Checkpoint Charlie, dem Grenzübergang für Ausländer, und fahren dann auf Nebenstraßen vorbei an der St.-Michael-Kirche und der St.-Thomas-Kirche, bevor wir auf der Schillingsbrücke die Spree überqueren und dann die stark befahrene aber mit einem Radweg ausgestattete Mühlenstraße entlang der East Side Gallery radeln. Die East Side Gallery ist das längste noch erhaltene Stück der Mauer, das nach dem Mauerfall auf einer Länge von 1316 Metern von Künstlern aus der ganzen Welt bemalt wurde. Es bedurfte harter Auseinandersetzungen, bis dieses Stück Mauer mit seinen Kunstwerken 1991 unter Denkmalschutz gestellt werden konnte und es ist inzwischen auch schon in seiner Geschlossenheit wieder gestört, weil hier doch Investoren am Ufer der Spree aktiv sind und natürlich Zufahrten zu den hier entstehenden Gebäuden brauchen. Am Ende der East Side Gallery fährt man über die Oberbaumbrücke, sicher nach ihrer Restaurierung eine der reizvollsten Brücken von Berlin, zurück auf die andere Spreeseite. Auf der Oberbaumbrücke war einst ein Grenzübergang für Westberliner. Die Grenze verlief hier am Westufer der Spree, während die Mauer am Ostufer stand.
Nun geht es über und ein kurzes Stück entlang des Landwehrkanals, der hier kurz hinter der Oberbaumbrücke in die Spree mündet durch Treptow. Hier gelangt man dann auch zum Treptower Mauer-Mahnmal. Die Metallskulptur, die 1999 errichtet wurde, besteht aus einem 3,60 m hohen, grauen Mauerstück und einem kleineren Teil, aus dem die Silhouette einer kindlichen Figur gestanzt wurde. Mehrere Einschusslöcher und eine Inschrift machen auf die dramatischen Ereignisse aufmerksam: „In Treptow starben 15 Menschen an der Berliner Mauer. Unter den Opfern waren Kinder. Jörg Hartmann, 10 Jahre alt, und Lothar Schleusener, 13 Jahre alt; erschossen am 14.03.1966.“ Der 10-jährige Jörg wohnte bei seiner Großmutter in Ost-Berlin und wollte zu seinem Vater nach West-Berlin. Als die beiden Kinder den Grenzzaun überwunden hatten, wurden sie erschossen. Die Grenzposten feuerten wohl ohne jegliche Hemmungen aus zwei Richtungen mit Maschinenpistolen. Offensichtlich war dieses Ereignis auch den Verantwortlichen in der DDR nicht geheuer. So verschleierten sie die Todesumstände und behaupteten, dass Jörg ertrunken und Lothar nahe Leipzig an einem Stromschlag gestorben sei. Die Schützen erhielten dennoch die üblichen Ehrungen. Einer von ihnen wurde dann aber doch 1997 zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten verurteilt.
Weiter geht es dann über die Sonnenallee und vorbei am Chris-Gueffreoy-Mahnmal. Chris Gueffroy war der letzte Mauertote, der hier am 6. Februar 1989 bei seinem Fluchtversuch, mit dem er sich dem Dienst bei der Nationalen Volksarmee entziehen wollte, erschossen wurde. Gerade dieser Fall hat noch lange nachgewirkt, weil die Beerdigung von Chris Gueffroy kein privates Geleit mehr, sondern ein Politikum wurde, als sich 120 Menschen auf dem Friedhof versammelten.
Nun führt der Weg mehrere Kilometer zwischen und entlang des Teltowkanals und der A 113. Für die hier umgekommenen Flüchtlinge gibt es wie entlang des gesamten Mauerwegs orangefarbene Erinnerungsstelen, auf denen sich wenn möglich ein Bild und eine kurze Lebensbeschreibung der Opfer findet. Bei Adlershof überquert der Radweg den Teltowkanal führt aber weiter entlang der A 113. Der Mauerwerg führt nun zunehmend über deutlich ländlicheres Gebiet. Hier gibt es dann die Stele, die auf einen amerikanischen Spionagetunnel hinweist, der hier in den 50er Jahren von Westberliner Gebiet aus 450 Meter nach Ostberlin gebuddelt wurde und an dessen Ende die Amerikaner und die Briten zentrale Telefonnetze der sowjetischen Streitkräfte abhören konnten. Das Ganze war aber wohl ein ziemlicher Flopp, weil die Sowjets von Anfang an durch einen britischen Doppelagenten informiert waren. Um diesen nicht auffliegen zu lassen, griff der KGB aber erst 11 Monate später ein.
Kurz hinter der Stele, die an den Spionagetunnel erinnert, finden wir dann eine Imbissbude, wo wir uns zu je einer Currywurst mit Pommes frites und Cola bzw. Tee niederlassen. Kurz danach kreuzen wir die Waltersdorfer Chaussee, wo sich seinerzeit auch ein Grenzübergang befand. Dann geht es weiter zwischen Rudow und Schönefeld entlang. Rechts von uns liegt die Westberliner Besiedlung und links blickt man auf inzwischen abgeerntete Felder. Vorbei geht es am sogenannten Frauenviertel, wo auf Initiative der Neuköllner Frauenbeauftragten zum 1. November 1996 alle 20 Straßen und Plätze der Rudower Gartenstadt nach mehr oder weniger bekannten Frauen benannt wurden. Es gilt als das erste Frauenviertel in Deutschland.
Bald biegt der Weg bei einem 86 Meter hohen Trümmerberg, der als „Dörferblick“ bekannt ist, nach Norden ab. Von hier blickt man dann auf die Gropiusstadt. Es ist eine Satellitensiedlung, die zwischen 1962 und 1975 gebaut wurde. Sie wurde von dem berühmten Bauhausarchitekten Walter Gropius geplant und dann auch nach ihm benannt. Hier entstanden 18.500 Wohnungen, von denen 90 % Sozialwohnungen waren. Heute leben hier 50.000 Menschen. Obwohl man mit den Wohnungen auch eine ideale Infrastruktur schuf und für eine Anbindung an die Innenstadt sorgte, entwickelte sich die Gropiusstadt zu einem sozialen Brennpunkt Berlins. Über Berlin hinaus wurde sie auch bekannt durch das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, dessen Hauptfigur Christiane F. hier aufwuchs.
Die nächsten Kilometer verlaufen recht monoton. Rechts bebautes Gebiet im ehemaligen Westberlin und links Ackerflächen. Gelegentlich eine der orangefarbenen Stelen, die meist auf ein weiteres Opfer hinweist, dass hier durch die Grenztruppen der DDR erschossen wurde. Als wir die Marienfelder Allee kreuzen, bringt dies natürlich das unweit von hier gelegene ehemalige Notaufnahmelager Marienfelde ins Gedächtnis. Es wurde am 14. April 1953 durch den Bundespräsidenten Theodor Heuss und den Regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter mit den markigen, in einer Urkunde festgehaltenen Worten eingeweiht, die ein treffendes Bild der damaligen Atmosphäre zwischen Ost und West widerspiegeln:
„Berlin und die Bundesregierung erbauen diese Siedlung als ersten Sammelpunkt und Durchgangslager für die aus der Zone der Unfreiheit in immer wachsender Zahl hereinströmenden Flüchtlinge. In der festen Zuversicht, dass der Kampf um die Freiheit und Einheit aller Deutschen endgültig gewonnen wird, errichtet Berlin das Notaufnahmelager in Form einer Wohnsiedlung, die später ein Heimstätte freier und glücklicher Menschen sein soll. Die ganze Planung ist daher auf die endgültige Verwendung abgestellt. Die Siedlung ist ein Zeuge der engen Verbundenheit Berlins mit den versklavten Brüdern des Ostens und der freiheitlichen Welt des Westens“.
Danach führt der Weg an der Stadtgrenze zwischen Lichterfelde und der in Brandenburg gelegenen Stadt Teltow entlang nach Nordwesten zum Teltowkanal. Zunächst geht es über die Kirschblütenallee. Es handelt sich um 800 Kirschbäume, die hier entlang des ehemaligen Grenzstreifens gepflanzt wurden. Sie sind ein Teil von 9.000 Kirschbäumen, die japanische Bürger und ein japanischer TV-Sender 1995 „aus Freude über die Vereinigung Deutschlands“ gestiftet haben und die sich an mehreren Stellen des ehemaligen Grenzstreifens finden. Etwa 3,5 Kilometer führt der Mauerweg nun am Teltowkanal entlang, der hier seinerzeit die Grenze bildete. Auch hier wieder mehrere Erinnerungsstelen für bei der Flucht erschossene Maueropfer.
Nach der Knesebeckbrücke geht es auf der Berliner Seite noch ein Stück auf einem alten Treidelpfad entlang des Teltowkanals und am Ortsrand von Kleinmachnow. Dann biegt der Mauerweg wieder nach Norden ab und man gelangt an den Stadtrand von Zehlendorf. In der Neuruppiner Straße erinnert eine Tafel an die gescheiterte Sprengung eine Fluchttunnels. Auch dies ein Beispiel, mit welcher Menschenverachtung die DDR seit 1961 ihre Grenze verteidigte. So wurde hier am 14.11.1962 die beabsichtigte Flucht von 23 Menschen verhindert. Die durch einen Spitzel informierte Stasi wollte nicht nur die Flucht verhindern, sondern die Fluchthelfer mit einer Sprengladung töten. Deshalb hatte sie eine Sprengung von jeweils fünf Pfund TNT und Hexogen vorbereitet, die mit einem 70 Meter langen Kabel gezündet werden sollte. Der Einsatzleiter hatte zwar den Befehl zur Sprengung gegeben, doch hatte einer der Grenzsoldaten das Kabel vorher zerschnitten. Die festgenommenen Flüchtlinge wurden zu mehrjähriger – der Fluchthelfer zu lebenslänglicher – Haftstrafe verurteilt. Weitere vier Fluchthelfer verdanken dem unbekannt gebliebenen Grenzsoldaten ihr Leben und ihre Freiheit.
Hinter Zehlendorf wird der Mauerradweg dann beschwerlicher und ist unbefestigt. Der Weg führt nun bis zur A 115 und dort entlang, vorbei an dem von der Autobahn immer ins Auge fallenden russischen Panzerdenkmal, bis zum neuen Europark Dreilinden auf dem Gebiet der früheren Grenzübergangsstelle. Ursprünglich wollten Alex und ich heute bis nach Potsdam kommen. Langsam werden wir aber doch müde und so eruiere ich über Google und booking.com nach einer günstigen Unterkunft in der Nähe. Zu meiner Überraschung sind die Unterkunftspreise zur Zeit in Berlin astronomisch. Die meisten Quartiere auch einfacherer Art sind nicht für unter 150 € zu haben und ohnehin überwiegend ausgebucht. Bei einem Telefonat erfahre ich dann den Grund. Es läuft gerade die jährlich Internationale Funkausstellung (IFA) in Berlin. Alex und ich diskutieren, was zu tun ist und Alex schlägt dann vor, dass wir ja auch bei ihm übernachten könnten. Ich könnte dann auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Ich hatte ohnehin schon den Eindruck, dass es Alex lieber wäre, wenn er abends nach Hause fahren könnte und nicht so recht eingesehen hat, warum er irgendwo in einer fremden Unterkunft übernachten soll.
So beschließen wir, nun nur noch bis Griebnitzsee und dann mit der S-Bahn zurück zum Hauptbahnhof zu fahren. Die Strecke nach Griebnitzsee hat es allerdings noch einmal in sich. Es wird sehr sandig und der Weg ist eigentlich kaum noch zu erkennen. Über längere Strecken müssen wir die Fahrräder sogar schieben. Dann fahren wir über eine alte Autobahnbrücke über den Teltowkanal, der ersten autobahnähnlichen Schnellstraße Deutschlands, der früheren AVUS. Die Streckenführung erwies sich für die DDR nach dem Mauerbau als problematisch, weil sie, nach dem West-Berlin verlassen wurde, nach einigen Kilometern auf DDR-Gebiet noch einmal durch ein wie ein Entenschnabel in das DDR-Gebiet hineinragendes Gebiet West-Berlins führte. Um Fluchtmöglichkeiten auszuschließen, wurde eine neue Streckenführung gewählt und die Natur hat das Teilstück der alten Trasse inzwischen zurück erobert.
In Griebnitzsee erreichen wir dann ohne Probleme die S-Bahn, die wirklich ein ausgesprochen praktisches und schnelles Verkehrsmittel in Berlin ist. Kein Wunder, dass viele junge Leute, wie auch Alex und sein Freund Minh angesichts des günstigen öffentlichen Nahverkehrs auf eigene Autos verzichten. In 20 Minuten sind wir am Hauptbahnhof und fahren dann noch einmal sechs Kilometer bis zu Alex und Minhs Wohnung in Wedding. Den Abend verbringen wir dann gemeinsam mit Minh in dem türkischen Restaurant Saray an der Ecke Müller-/Seestraße, dass sehr empfehlenswert ist.
Tagesdaten: 81,95 Km