Tagesdaten: 64,07 Km
Nach einem dem Zimmer angemessenen spartanischen Frühstück versuche ich doch recht zügig von Lübeck Abschied zu nehmen. Heute ist also mein letzter Tag auf dem Deutsch-Deutschen Radweg. Passend dazu: heute ist auch der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Der 3. Oktober ist seit 1990 ein gesetzlicher Feiertag. Dieses Jahr fällt er auf einen Samstag, aber wegen der Corona-Pandemie fallen doch die Feierlichkeiten sehr zurückhaltend aus.
Obwohl das bikeline Radtourenbuch, mein ständiger Begleiter auf dieser Tour, den Deutsch-Deutschen Radweg in Lübeck am Hauptbahnhof enden lässt, endete die deutsch-deutsche Grenze natürlich nicht am Lübecker Hauptbahnhof, sondern verlief weiter bis auf die Halbinsel Priwall, gegenüber der Altstadt von Travemünde. Dort endete die deutsch-deutsche Grenze an der Ostsee und der Radweg Eiserner Vorhang geht über den Ostseeradweg weiter die Ostseeküste entlang über Rostock, Swinemünde, Danzig, Kaliningrad, Klaipeda (das frühere Memel), Riga, Tallinn, Narva und St. Petersburg bis an die russisch-finnische Grenze. Diesen Teil des Iron Curtain Trail und den weiteren Nördlichen Teil bis an die Barentssee bin ich bereits, teilweise sogar mehrmals, gefahren.
So fahre ich an diesem Morgen bei bedecktem Himmel auf recht verschlungenen Wegen aus Lübeck hinaus, bis ich in einem Waldgebiet wieder an die Grenze von Mecklenburg-Vorpommern gelange. Der Weg, der hier noch als Grünes Band ausgewiesen ist, führt auf einem unbefestigtem Waldweg bis nach Schlutup. Hier am ehemaligen Zollhaus des Grenzübergangs Schlutup findet heute offensichtlich eine Feier zum Tag der Deutschen Einheit statt. Als ich vorbeikomme findet von einer Bühne herab offensichtlich ein ökumenischer Gottesdienst statt. Ansonsten haben die aufgebauten Buden eher etwas von Volksfestcharakter unter Einhaltung der Hygieneregeln. So muss sich jeder beim Betreten des Geländes registrieren und es herrscht Maskenpflicht. Bis zur Deutschen Einheit 1990 lag Schlutup direkt an der innerdeutschen Grenze. Der Grenzübergang Schlutup war der nördlichste Grenzübergang zur DDR für den Transitverkehr insbesondere nach Skandinavien über Rostock und Rügen aber auch nach Westberlin. Auch sämtlicher Verkehr in der unmittelbaren Nachwendezeit durchquerte das Dorf; so vor allem auch schon vor der Wende die sehr fragwürdigen Gift- und Sondermülltransporte zur wenige Kilometer entfernten DDR-Sondermülldeponie Schönberg, auf der gegen entsprechende Devisen sehr giftige Abfälle aus ganz Westeuropa in der DDR abgelagert wurden. In der Grenz-Dokumentationsstätte Lübeck-Schlutup, einem ehemaligen Zollhaus, wird an die Geschichte der Teilung Deutschlands und insbesondere an die Situation in Lübeck und dessen Stadtteil Schlutup erinnert.
Von Schlutup führt dann der Weg von der Grenze weg nach Mecklenburg hinein über Schönberg, bis man in Dassow wieder an die Grenze gelangt. In Schönberg wollte ich eigentlich einen Blick auf die Mülldeponie erhaschen, sie liegt aber gar nicht in Schönberg, sondern einige Kilometer nordwestlich in Ihlenberg. Das war mir allerdings nicht bekannt und so habe ich die Deponie selbst nicht gesehen, aber bei Wikipedia ein entsprechendes Foto gefunden. Die Deponie heißt nun auch nicht mehr Deponie Schönberg, sondern Deponie Ihlenberg. Der Namenswechsel erfolgte wohl auch aus Vermarktungsgründen, um die belastete Vergangenheit abzustreifen. In Dassow gelange ich in die nordwestlichsten Ort der ehemaligen DDR. Dassow lag bis Ende 1989 inmitten des Sperrgebietes der DDR-Grenze und war ohne spezielle Passierscheine nicht erreichbar. Der zu Lübeck und damit zum Gebiet der Bundesrepublik gehörende Dassower See, eine Bucht der Trave, war durch die DDR-Grenzsperranlagen von der Stadt abgetrennt und von hier aus nicht zugänglich. Diese Regelung zeigt mal mehr die Perversität des seinerzeitigen Grenzregimes. Ein Ort liegt an einem See und die Bewohner haben keinen Zugang, weil, würden sie am Ufer sitzen und ihre Füße ins Wasser halten, säße ihr Hintern in der DDR und ihre Füße stünden in der Bundesrepublik.
Von Dassow geht es dann am Nordufer des Dassower Sees entlang und später landeinwärts über Johannstorf und Pötenitz nach Priwall. In Pötenitz mache ich einen kurzen Abstecher zum schlossähnlichen Gutshaus, das zwar unter Denkmalschutz steht, sich aber in einem beklagenswerten Zustand befindet. Dann komme ich nach Priwall und damit an den Ausgangs- bzw. für mich Endpunkt des Deutsch-Deutschen Radweges. Die Halbinsel Priwall müsste geografisch sicher Mecklenburg zugeordnet werden. Sie ist von drei Seiten von Wasser umgeben und war zu DDR-Zeiten auf der Seite wo kein Wasser war durch die deutsch-deutsche Grenze vom Hinterland abgeschnitten. Das der Priwall auch nach 1945 westdeutsches Gebiet blieb liegt sicher daran, dass er schon traditionell zu Lübeck gehörte. So wurde bereits Jahre 1226 der Priwall Teil des Lübecker Stadtgebietes (Lübecker Reichsfreiheitsbrief). Im gleichen Jahrhundert entstand auch ein Steindamm zwischen dem Priwall und dem Festland nach Mecklenburg, was darauf hindeutet, dass der Priwall ursprünglich eine Insel in der Travemündung war.
Priwall kenne ich schon aus früheren Zeiten. Ins Auge stechend war immer eine große Senioren-Residenz. Darüber hinaus gab es eine Ferienhausanlage und große Sportboot- und Yachthäfen, die insbesondere während der Travemünder Woche internationales Flair bieten. Ferner sind hier zahlreiche private Wochenendhäuser. Als Eyecatcher kann man an der Trave unter anderem die Viermastbark Passat besichtigen. Dieses Schiff war ein Flying P-Liner der Hamburger Reederei F. Laeisz, die 1920 mit der Priwall auch ein ähnliches Schiff nach der Halbinsel benannte. Die Schiffe, deren Namen alle mit „P“ begannen, waren für ihre Geschwindigkeit und ihre Sicherheit berühmt, sie wurden in den Reedereifarben Schwarz (Rumpf über der Wasserlinie), Weiß (Wasserlinie) und Rot (Unterwasserschiff) gestrichen. Als 1957 das Schwesterschiff Pamir in einem Hurrikan sank und die Passat selbst kurz danach nur knapp dem Untergang in einem Orkan entging, wurde das Schiff vor dem Hintergrund sinkender Rentabilität außer Dienst gestellt. 1959 wurde die Passat von der Stadt Lübeck gekauft und ist seit 1960 als stationäres Museumsschiff, Jugendherberge und Veranstaltungsort in Travemünde im Segelschiffhafen an der Travemündung vor Anker. Sie diente offensichtlich als Ersatz und als Reminiszenz für die Priwall, die 1941 in Valparaiso interniert, dann an die chilenische Regierung verschenkt wurde, die sie als Schulschiff Lautaro einsetzte; 1945 ging das Schiff nach einem Ladungsbrand verloren.
Neben der Geografie und Geschichte konnte ich bisher dem Priwall nicht sonderlich viel abgewinnen. Umso erstaunter bin ich als ich mehr oder weniger zufällig doch noch zum Hafen fahre. Ein Teil des Priwalls nahe dem Liegeplatz der Passat wurde erst in den letzten drei vier Jahren völlig umgestaltet und es erhebt sich eine supermoderne Touristenanlage. Ende 2007 wurde eine sieben Hektar große Teilfläche des Priwalls an die Waterfront-AG verkauft. Diese baute Häuser und Hotels entlang und mehrfach gestaffelt hinter der Wasserlinie. Gegen das Bauprojekt wandte sich zwar die „Bürgerinitiative behutsame Priwallentwicklung e. V.“ Sie legte 2010 ein alternatives Konzept mit eingeschränkter Bebauung vor. 2018 war die Anlage Priwall Waterfront mit 6,1 Hektar Fläche im Bau. Das „Slow Down“-Tagungszentrum wird ab Ende 2019 im Sommer als Hotel und im Winter für Tagungen und Kongresse genutzt. Das Ergebnis kann sich sowohl architektonisch als auch touristisch sehen lassen. Es ist sicher nichts für Menschen, die die Einsamkeit suchen, aber für die große Zahl der Menschen, die als Touristen Geselligkeit und vielseitige Angebote suchen bietet die Priwall Waterfront sicher attraktive und moderne Angebote.
Hier endet also meine Tour auf dem Deutsch-Deutschen Radweg. Rund 1.400 Kilometer habe ich nun in den zwanzig Tagen zurückgelegt. Über 1.100 Kilometer ist allein der Deutsch-Deutsche Radweg lang. Dazu kamen aber noch diverse Abstecher und Besichtigungsfahrten. Meine heutige Tour ist freilich noch nicht zu Ende. Mein Ziel heißt heute Boltenhagen, wo ich Heidrun treffen werde und wir einen zweiwöchigen Urlaub an der Ostseeküste verbringen werden. Es ist ein schöner Zufall, dass unsere persönliche Wiedervereinigung nun gerade am 3. Oktober stattfindet. Wir haben uns für eine Woche in Boltenhagen und eine Woche in Prerow jeweils eine Ferienwohnung gemietet und hoffen so Corona frei durch den Urlaub zu kommen.