Heute ist Verfassungstag in Polen, ein gesetzlicher Feiertag. Dabei wird nicht etwa der gegenwärtigen Verfassung gedacht, sondern einer aus inzwischen fernen Zeiten. Es ist die Verfassung vom 3. Mai 1791, die als die älteste moderne Verfassung in Europa gilt und an dem genannten Tag vom polnischen Sejm, der sie auch ausgearbeitet hatte, verabschiedet wurde. Inhaltlich orientierte man sich bei der Verfassung an den Ideen der Aufklärung, der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sowie den seit dem 16. Jahrhundert in Polen selbst stattfindenden Reformdiskursen.
Ich hatte schon auf die Schwächen des polnischen Staatsgefüges durch das Wahlkönigtum und das Liberum Veto hingewiesen. Diese Schwächen wurden nun auch der Hebel, mit dem die benachbarten Staaten Russland, Preußen und Österreich-Ungarn diese neue Verfassung aushebelten, indem sie Polen untereinander aufteilten. Die Verfassung vom 3. Mai wurde von den Nachbarländern Polens, nicht zuletzt wegen der gleichzeitigen Vorgänge in Frankreich, als eine Bedrohung für deren absolutistische Herrschaftsform gesehen und nach der Konföderation von Targowica und der Intervention Russlands, die im Russisch-Polnischen Krieg von 1792 gipfelten, von Königreich Preußen unter Friedrich Wilhelm II. und dem Russischen Reich unter Katharina II. im Rahmen der Zweiten Teilung Polens 1793 außer Kraft gesetzt.
Somit teilte die polnische Verfassung ein ähnliches Schicksal, wie andere moderne Verfassungen in Europa. Auch die in dem Paulskirchenparlament für ein Deutsches Reich erarbeitete Verfassung von 1848 scheiterte aus diesen Ängsten vor einer Beseitigung der absolutistischen Herrschaftsform.
Nun aber zum heutigen Tag. Der Blick aus dem Fenster zeigt mir einen blauen Himmel, der Blick auf meine Wetter-App zeigt aber, dass es auch wieder kühler wird. Das Frühstück in der Pension Baranowka wird in einem großen Esszimmer eingenommen und als ich um 8 Uhr runterkomme sind zwei lange Tische gedeckt und der Hausherr platziert alle nebeneinander in der Reihenfolge wie sie zum Frühstück erscheinen. Ich komme als Dritter und werde neben einem Herrn platziert, der mit seiner Frau als erster den Frühstücksraum aufgesucht hat. Es kommen aber dann in kurzem Abstand immer mehr weitere Gäste und ich muss sagen, ich hatte gestern überhaupt nicht gemerkt, wie viele Gäste hier abgestiegen waren. Offensichtlich wird den übrigen Gästen mitgeteilt, dass ich Deutscher sei und kein polnisch spreche. Einerseits nett, dass ich mich damit aufs Frühstück konzentrieren kann, andererseits natürlich traurig, dass ich damit wieder keine Möglichkeit zur Kommunikation mit Polen habe. Das ist aber freilich mein Problem.
Das Frühstück, dass die Gastgeber servieren, ist wieder einmal von hoher polnischer Qualität. Es gibt verschiedenen Brotsorten, es wird Rührei serviert, große Ringe einer hervorragenden polnischen geräucherten Wurst, auch Schinken und andere Wurstsorten stehen auf dem Tisch, es gibt verschiedene Sorten Käse und Frischkäse, Tomaten und Gurken und vieles mehr, was ich gar nicht benennen kann, weil ich nicht weiß, was es ist. Kurz und gut, für mich ein hervorragender Tageseinstieg.
Nach dem Frühstück packe ich dann meine Sachen zusammen. Bevor es losgeht, bedarf mein Fahrrad aber mal wieder der Pflege. Es hat bisher hervorragend durchgehalten. Aber mir scheint es doch nötig, es mal vom größten Dreck, der an den Regentagen sich auf dem Gefährt abgesetzt hat, zu befreien. Auch reinige und öle ich die Kette erneut, denn in ihr hat sich insbesondere einiges an Sand der Sandpisten der vergangenen Tage festgesetzt. Um 9:30 geht es dann los.
Ich fahre zunächst über Goniadz, wo ich mich in einem Sklep für den heutigen Tag versorge, die Wurst, die es zum Frühstück gab, gibt es dort auch und ich erstehe eine etwa 25 cm lange Wurst von dieser Art zwei Brötchen und zur Sicherheit ein Bier. Danach schaue ich mir noch die Vorbereitungen auf dem Zentralen Platz für die Feier des Verfassungstages an. Da auch ein Rednerpult aufgestellt wird, scheint es auch hier in der Provinz Reden zu geben, die diesen Tag würdigen.
Darauf warte ich natürlich nicht, denn ich will ja weiter. Ich fahre die nächsten etwa 10 Km auf einem straßenbegleitenden Radweg entlang der 670 bis Osswiec. Dort biege ich auf einen Feldweg ab, am Bahnhof Oswiec vorbei auf eine Nebenstraße, die in den Nationalpark hineinführt. Vorbei geht es am Nationalparkhaus, mein Ziel sind aber die Trümmerreste der Festungsanlage Oswiec.
Die Festung Osowiec wurde im 19. Jahrhundert von der russischen Armee errichtet. Sie lag im Gouvernement Grodno (Liegt heute in Belarus) des russischen Zarenreiches. Die Festung Osowiec lag 30 Kilometer von der Grenze zu Ostpreußen entfernt an einem der wichtigsten Übergänge über den Fluss Biebrza. Sie war umgeben von den gleichnamigen Sümpfen. Durch die Festung lief die Eisenbahnlinie von Białystok über Lyck nach Königsberg und wurde an dieser Stelle vollkommen von ihr beherrscht. Ihre Lage zu beiden Seiten des Flusses, umgeben von Sümpfen, zeichnete die Festung aus, machte sie schwer erreichbar und kaum angreifbar.
Um es kurz zumachen. Die Festung wurde im Ersten Weltkrieg aufgrund der Belagerung durch die Deutschen sehr stark zerstört. Im Zweiten Weltkrieg verschanzten sich dann die Deutschen hier vor den vorrückenden Truppen der Russen, was der Festung den Rest gab. Heute finden sich lediglich noch einzelne Trümmerteile, die mehr an die Geschützbunker des Zweiten Weltkriegs erinnern als an eine umfassende Festung.
Von hier hat man aber nun einige schöne Blicke in die Sumpflandschaft des Biebrza Nationalparks. Nachdem ich mich etwas umgeschaut habe, geht es wieder zurück auf die 670. Sie führt nun unmittelbar auf eine nicht nummerierte aber gut asphaltierte Nationalparkstraße die über die nächsten ca. 40 Kilometer ziemlich gradlinig durch den zum Biebrza Nationalpark gehörenden Walt führt, der vorrangig ein Pinien- und Birkenwald ist. Die Straße ist heute am Feiertag natürlich ziemlich befahren und die in regelmäßigen Abständen vorhandenen Parkplätze sind meist belegt. Von hier aus führen dann Wanderwege tiefer in den Nationalpark hinein.
Trotz des Verkehrs ist die Straße auch heute für Radfahrer gut befahrbar. Sie ist auch Teil des Green Velos und es gibt eine Beschränkung von 50 Km/h. Auch wenn der Verkehr sicher heute stärker ist als an gewöhnlichen Wochentagen, verteilt er sich auf den 40 Kilometern doch so, dass man nicht von einer Überlastung sprechen kann. Auch heute gibt es minutenweise Zeiten. in denen kein Auto an mir vorbeifährt. Der gute Straßenbelag führt dazu, dass ich nicht mehr durch den Wald zu fahren glaube, sondern ich gleite durch ihn dahin.
Fairerweise muss man sagen, viel mehr gibt es über diese Strecke nicht zu berichten. Die einzige Ortschaft Dobarz, die man passiert ist eher ein Weiler oder gar ein Flecken mit nicht einmal einem Dutzend Häusern, davon ein Hotel. Erst in Laskowiec gibt es wieder eine kleine Ortschaft mit einer modernen in den Himmel ragenden Kirche. Da bin ich aber auch schon aus dem Nationalpark raus.
Unweit davon überquere ich bei Strekowa Gora den Narew. Der Narew ist ein Nebenfluss der Weichsel. Er entspring in Belarus und fließt auf einer Länge von von 484 km in Polen nördlich von Warschau in die Weichsel. 312 km des Narew sind schiffbar. Hier fahre ich nun nach Osten entlang in Richtung Tykozyn. Mein nächstes Ziel ist eine Gedenkstätte in einem Wald nahe Tykocin, wo im Wald von Lopuchowo die nationalsozialistischen Einsatzgruppen am 25./26 August 1941 ein Massaker an 3000 jüdischen Bürgern, überwiegend aus Tykocin, verübten. Tycocin hatte – wie viele polnische Städte hier im Osten Polens – einen hohen Anteil jüdischer Einwohner, so dass schon durch diese Massaker, wofür das von Tykocin nur ein Beispiel ist, ein großer Anteil der Bevölkerung Ostpolens ausgelöscht wurde.
Es ist schon sehr bedrückend an diesem Ort mitten im Wald zu stehen. Man muss auch immer wieder betonen, dass dies kein Einzelfall war, sondern es war Programm und ein Element des nationalsozialistischen Massenvernichtungsprogramms an den europäischen Juden. Am Ort des Massakers im Wald befinden sich heute vier Gedenksteine. Der erste Gedenkstein aus kommunistischer Zeit, enthält und das ist auch bezeichnend, keinen Hinweis auf Juden. Es ist deshalb bezeichnend, weil es zeigt, wie ein latent immer noch vorhandener Antisemitismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gewirkt hat. Das gilt natürlich nicht nur für Polen. Der zweite und dritte Gedenkstein wurden von amerikanischen Juden errichtet. Der vierte hat die Form eines Davidsterns und ist auf Hebräisch beschriftet. Ich halte hier eine Zeitlang inne, bevor ich mich wieder weiterfahren kann. Die Vorstellung, was hier passiert ist, erzeugt schon ein Grauen darüber, zu was Menschen fähig sind.
Danach mache ich mich auf den Weg zu meinem heutigen Quartier, einem Agroturistiku. Das sind in der Regel kleine oder größere Bauerngehöfte mit Pensionscharakter. Als ich ankomme, kommt gleich ein Mann so in meinem Alter auf mich zu und fragt „Kol?“. Ich erkenne darin natürlich meinen Namen und bejahe es. Er geht mir voraus und kommt mit seiner Frau, die aber nun erst anfängt, mir ein sehr einfaches Zimmer zurechtzumachen, also vor allem das Bett zu beziehen. Ob diese Behausung bin ich doch recht irritiert. Noch irritierter bin ich, dass sie von mir 80 Zloty für das Zimmer haben wollen, hatte mir doch booking.com mitgeteilt, dass das Zimmer mit 150 Zloty schon bezahlt sei. Nach einigem hin und her, insbesondere als ich auf meine Buchung verweise, stellt sich heraus, dass mein Navi mich an das falsche Ziel geführt hat. So lasse ich mir erklären, wo mein tatsächliches Ziel liegt und versuche es erneut. Nachdem ich unsicher werde, weil ich die angekündigte Abzweigung nicht finde, erkundige ich mich in einem Restaurant erneut. Der Wirt, der etwa so gut englisch spricht wie ich, erklärt mir dann auch draußen vor der Tür den richtigen Weg, der nämlich über den Parkplatz des Gasthauses führt. Für 1,5 Kilometer musste ich dann noch einmal über Sandpisten, bis ich vor zwei hübschen Einfamilienhäusern auf einer Lichtung mitten im Wald stand. Aus dem zweiten Grundstück wurde ich dann schon von einer Frau heran gewunken, die auch meinen Namen wusste und mich wohl schon erwartet hatte. Sie führte mich um das Haus herum und über eine Terrasse zu einem etwa 30 qm großen ganz neuen Einzimmerapartment. Es ist wirklich sehr schön und ich bin heilfroh, dass es tatsächlich ein Irrtum war mit der ersten Anlaufstation.
Was das Abendessen betrifft, war ich ja nun auch schon fündig geworden. Meine Vermieterin meinte allerdings, dass das Restaurant bereits um 19 Uhr schließe. So musste ich mich etwas sputen, kam aber noch rechtzeitig, um es mir bei der traditionellen polnischen Suppe und einem Rehbraten mit Salat und Backkartoffeln und einem Zubr-Bier es schmecken zu lassen.
Tagesstrecke: 76,89 Km; 13,70 Km/h; 170 Hm